Himmelsarsch
VORWORT
Deleuze, Gilles (1977): Anti-Ödipus Kapitalismus und Schizophrenie.
Wie ist das Verhältnis zwischen Wahn und Ordnung? Was bleibt, wenn Wahnsinn sich als Ordnung tarnt und somit unerkannt bleibt?
In Anlehnung an Dr. Daniel Paul Schreber, ehemaliger Senatspräsident am Oberlandesgericht Dresden, versuche ich, diese Fragestellung zu bearbeiten – ein radikales Hinterfragen psychiatrischer Norm und gesellschaftlicher Ordnung. Sein Werk „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ (1903) zählt zu den dubiosesten autobiographischen Texten des 20. Jahrhunderts. Der Jurist, Vater und Senatspräsident berichtet mit Überzeugung von der „Verwandlung in einem Weib, um Beischlaf zu unterlegen.“, von Strahlen Gottes und Zerlegung und Umwandlung seines Körpers. Was Freud im Nachhinein als paranoide Schizophrenie diagnostizierte, lesen wir hier als einen poetischen Aufstand gegen die Ordnung, die nur diejenigen bestehen lässt und anerkennt, die gehorchen.
Der Text versucht, die paranoische Perspektive Schrebers einzunehmen und ist zugleich auch eine Mischung aus meinen persönlichen Erinnerungen und Fragmenten, sowie politischer und gesellschaftlicher Kritik. Was heißt es, zu heilen, ohne zurückzudrehen; zu überleben, ohne sich wieder produzieren zu lassen.
HIMMELSARSCH
„Die Besserung ist die Feindin der Heilung“ – Hans Blumenberg (2015, S.171): Rigorismus der Wahrheit („Moses der Ägypter“ und weitere Texte zu Freud und Arendt)
Ich erinnere mich an die Schwere der Decke in meinem Kinderbett – sie war weich, sanft, ja, fast mütterlich. Doch zwischen ihren Fasern schwebte Gedankenstau, der nicht fliegen durfte;
Ich erinnere mich an die Falten meiner Träume – sie leuchteten – voller Fantasie, voller Verbote. Ich musste sie geheim halten, es gab keinen Platz für sie in der Ordnung.
Ich erinnere mich an die Übung mit meinem Vater – seine Sprache war wie ein Drahtzaun – gerade sitzen. Nicht weinen. Ein Mann ist eine Mauer, keine Öffnung. Ein Schritt zum Drahtzaun hin und ich blute.
Ich erinnere mich an das emotionslose Gesicht von Frau Lehrerin – ihr Blick war aus Stahl, ihr Mund verkündete die Vorteile von Ordnung. Sie ist die Göttin und sieht sich für die Rettung menschlicher Zivilisation berufen: hart lernen; es zahlt sich eines Tages aus – Ungehorsamkeit war eine Sünde, Verbannung, Bestrafung, eine mildere Variante der Flamme.
Ich war kein Kind, ich war ein Projekt. Ein unfertiger Mensch auf dem Fließband der Ordnung, der Zivilisierung – ein Produkt der Produktion, folgt der Produktion von Produktion. Meine Eltern, ja – Projektmanagerinnen eines fremden Plans, dessen Ursprung nur mythisch zu erklären ist. Jedes Zucken von mir ist ein Symptom, jedes Hinterfragen eine Anomalie. Also stellte ich keine Fragen mehr, schließlich wollte ich einfach nur dazugehören – zu meinem liebevollen Väterchen und Mütterchen, zu meinen liebsten Freundinnen. Doch eine Stimme flüsterte mir immer ins Ohr: Irgendwas läuft falsch. Bin ich das? Bin ich falsch? Tag und Nacht dachte ich darüber nach, vergebens. Vielleicht ist es das, was die anderen Leben nennen – den anderen Gehorsamen gehorchen, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Ordnung erkannte mich als wertvoll, wenn ich still war, unauffällig; die Gehorsamen gehorchen.
Doch dann begann das Zittern. Es begann, als meine Beine unter der Tischplatte miteinander flüsterten, als Vater mit mir sprach. Es begann, als die Bücher schwebten – wie Rauch, dissoziiert in Luft, in meinem Atem, als die Frau Lehrerin mich aufrief. Es begann mit der Angst; die Angst, falsch zu sein – noch bevor ich wissen konnte, was falsch bedeutet. Darum schwieg ich darüber. Ich verließ mein Kinderzimmer und Frau Lehrerin, aber sie verließen mich nie. Ich schwieg weiter, als ich die Universität betrat – wie mein Vater, ein gut genährter Akademiker und Volljurist. Das Volk hatte mich später zum Senatspräsidenten gewählt – eigentlich war es das, was ich immer werden wollte, oder mir zumindest eingeredet habe. Doch die Nachricht zur erfolgreichen Wahl hatte mir nicht einen Hauch Freude bereitet. Ich kam ins Amt – Produktion von Akten, Konsumption von Akten, Produktion der Konsumption – Tag für Tag. Ich fühlte mich wie ein organloser Körper. Oder ein körperloses Organ der Ordnung? Ich konnte es nicht sagen.
Bis eines Morgens das Sonnenlicht nicht einfach schien, sondern strahlte, ja kräftig durchstrahlte. Mich. In mir. Meine Zellmembran. Meine Nervenzellen. Ich fühlte mich modifiziert und hatte neue Produkteigenschaften bekommen, die man auf dem Fließband der Ordnung gar nicht bekommen konnte. Plötzlich fühlte ich mich dazu berufen, ein Mädchen zu werden – nicht aus Wahl, sondern aus Not; nicht Frau, nicht Mann – ein Mädchen. Die Strahlen verlangten Einlass, sie wollten Blumen in mir pflanzen, eine neue Welt in mir errichten. Das Männliche war mir zu fest. Zu gerade. Zu zu. Ich will nur durchlässig werden für das, was kein Vater hören will – was Frau Lehrerin verbannen will. Ich wollte weinen dürfen. Ich musste mich daher auflösen, um zu überleben, um mich nicht zu verlieren. Doch mein Mädchen-werden war eine Gefahr,da es nicht aus der Ordnung heraus sprach, sondern aus den Lücken der Ordnung. Das, was sie „Paranoia“ nennen, ist meine eigene Sprache ohne Genehmigung. Sie nannten es Wahn, ich nannte es Erlösung; sie nannten es Irrglaube, ich nannte es Rettung.
Dann kam ein Mann namens Flechsig – seine Hände sind so weich, tasteten direkt nach meiner Seele, zärtlich. Doch in dieser Zärtlichkeit roch ich wieder das Gesetz. Er berührte meine Seele mit Gittern aus Diagnosen. Man nannte es Therapie, doch ich nannte es Erdrücken, Einsperren – das Ganze ist unsichtbar, schwebend und doch kraftvoll. Man nannte ihn Therapeuten, doch ich nannte ihn Seelenmörder – er nahm mir mit seinen Pillen meinen Traum vom Mädchen-werden. Das tut mir bis heute in der Seele weh.
Man sagt, mir ginge es wieder „besser“, seitdem ich nicht mehr Mädchen werden wollte. Ich schrieb ihm daher einen Dankesbrief. Ich schwieg aber, dass ich nun leer war – ohne meine schönste Fantasie. Denn was ist dann Besserung, wenn sie mit Zwang beginnt? Und was ist Normalität, wenn man eine Mauer um den Mund der anders Sprechenden baut? Blumenberg wusste: „Besserung ist die Feindin der Heilung“, ich wurde nur „besser“ durch Schweigen und Verschweigen – geheilt war ich nie.