Oh, du schöner Sommer
Mein Papa hasste den Winter. Er hasste das frühe Aufstehen, um Schnee zu schaufeln. Er hasste das Heizen, denn das macht die Luft zu trocken für seine Gitarren. Er hasste das viele Geld ausgeben, was nicht Weihnachten allein, sondern den fünf Geburtstagen meiner Familie, die leider alle im Jänner gelegen sind, zuzuschreiben war. Er hasste aber vor allem das große Schmelzen. Wenn sich die ersten Sonnenstrahlen nach dem eiskalten Winter herauswagten und den Aggregatzustand der Massen an Schnee änderten. Als ich noch jünger war, bekam ich davon nicht viel mit. Für meinen Papa drohte damit jedoch immer eine Gefahr, für ihn war es wie Ebbe und Flut. Wie sich später herausstellte, bleibt mein Papa vor keiner Jahreszeit verschont.
Letzten Sommer im Juni feierte ich den Geburtstag einer Freundin in einer versteckten Hütte in Slowenien: Es fängt an zu nieseln. Die Tropfen werden schwerer und schwerer. Und, da - wow! – der erste Blitz! Naiv wie Kinder, beobachten wir das Naturspektakel. Aber das ist uns nicht genug. Wir wollen keine Beobachterinnen sein, nein, wir sind die Protagonistinnen! Also nehmen wir uns an den Händen und stürzen uns in das Chaos. Glücklich tanzen, lachen und schreien wir im Regen. Wir genießen den kalten Regen auf unserer mit Schweiß belegten Haut. Der Regen wird stärker und der Wind lässt uns frieren. Bald spüren wir etwas auf unserem Kopf - haben wir uns das eingebildet? Nein, das Finale fängt an, der Regen hört auf, der Hagel betritt die Bühne. Wir werden verscheucht und verstecken uns in unserer kleinen Hütte. Wir fühlen uns sicher, während es um uns herum so scheint, als ob die Welt zusammenbricht. Etwa so wie auch die von meinem Papa. Ich wache am nächsten Tag auf und schaue auf mein Handy. Eine Nachricht, kurz aber vielsagend: Clara, schlechte Nachricht. Wiederholung 2012. Es ist vieles zerstört. Bitte ruf mich an. Bussi
2012 war das Jahr, in dem wir erkannten, dass selbst feste Mauern im Angesicht der Natur machtlos sind. Die Flut kam, viele Erinnerungen schwemmte es davon. Innerhalb, was sich anfühlte, von Sekunden stand unser Keller bis zur Decke voll mit Wasser. Während meine Familie, Feuerwehr und Nachbar*innen versuchten zu retten, was zu retten war, stieg das Wasser immer stärker und schneller an. In meinen kleinen Händen versuchte ich alles, von kleinen Stofftieren bis Bilder aus meiner Kindheit, zu greifen, bis auch unsere Zimmer nicht mehr ohne Badeausstattung begehbar waren.
2024 wiederholte sich diese Szene, im kleineren Ausmaß. Jedoch gab es einen großen Unterschied, früher waren wir zu fünft. Jetzt lebten nur mehr mein Papa und zwei Katzen in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Es war Nacht und mein Papa war wach, weil er schon ahnte, was ihm drohte. Seine Ängste sollten sich bestätigen: Während ich friedlich in meinem Bett in Slowenien schlief, zerbrochen bei meinem Papa die Fenster und sein Herz noch dazu.
Mein Papa hat Angst. Mein Papa alterte im letzten Jahr sehr viel. Das sieht man ihm an. Die Angst lässt ihn erfrieren. Jeden Tag. Es war nicht nur die Überschwemmung, es waren deren Folgen. Die Entfeuchter, die Tag und Nacht laufen mussten, bedrückten ihn. Das Chaos, das ihm entgegen schwamm, mit dem er allein konfrontiert war, überforderte ihn. Das Gerinnsel, dass sich heimlich still und leise in seinem Hals bildete und der darauffolgende Krankenhausbesuch, gaben ihm den Rest. Und das Geld, das Geld, das viele Geld. Er muss raus. Das Haus ist gefährlich und wird ihn noch irgendwann verschlingen! Er muss raus bis zum nächsten Juni. Bevor das Gewitter kommt, bevor das Wasser kommt und bevor die Entfeuchter kommen. Mein Papa hat Angst. Als Kind dachte ich, wenn Eltern einmal Angst haben, brennt der Hut. Stattdessen schwimmt jetzt das Haus. Und nicht nur unseres.
Mein Papa hasste den Winter. Jetzt hasst er den Sommer. Und vielleicht wird es irgendwann keine Jahreszeiten mehr geben, nur noch Extreme, zwischen Hitze und Kälte, Dürre und Flut. Was meinem Papa passiert ist, passiert nicht nur ihm. Es passiert überall. In Slowenien, in Österreich, in der Schweiz, in Argentinien, Australien - überall, wo der Regen nicht mehr aufhört, wo der Boden das Wasser nicht mehr schlucken kann, wo Häuser wegbrechen und Leben erschüttert werden. Und es passiert immer öfter. Immer schneller. Die Katastrophen, die früher einmal im Jahrhundert passierten, kommen jetzt alle paar Jahre – oder gleich mehrmals in einem. Das, was mein Papa als Wetter kannte, ist längst Klima geworden. Ein Klima, das sich verändert. Nicht von selbst, nicht zufällig, sondern weil wir es tun. Weil wir zu lange nichts getan haben. Die Erde erwärmt sich, Gletscher schmelzen, Meere steigen, extreme Wetterereignisse nehmen zu. Das ist kein Naturphänomen, das ist menschengemacht. Und es betrifft nicht nur Eisbären oder ferne Länder – es betrifft unsere Keller, unsere Wohnzimmer, unsere Eltern. Unsere Erinnerungen.
Mein Papa hat Angst. Und das sollte uns allen zu denken geben. Nicht, weil er schwach ist – sondern weil er etwas sieht, das wir viel zu oft verdrängen: Dass das, was uns vertraut ist, auf dem Spiel steht. Und dass wir jetzt handeln müssen – politisch, gesellschaftlich, persönlich.