Zwischenräume und Wahrnehmung
Ich habe schon früh mehr wahrgenommen als andere. Mehr Geräusche, mehr Stimmungen, mehr Widersprüche. Die Welt war nie einfach nur da- sie kam mir immer gleichzeitig zu nah und blieb doch rätselhaft fern.
Ich war ein stilles Kind, extrem schüchtern, aber innerlich ständig in Bewegung.
Voller Bilder, innerer Monologe, Gedanken, die nirgends hinpassten.
Und trotzdem – oder gerade deshalb – war ich diejenige, die andere Kinder mitnahm in ausgedachte Welten, ich erinnere mich an Waldstücke, in denen es geheime Regeln gab. An Orte, die nur wir kannten, mit erfundenen Figuren, Geschichten, ganze Landschaften.
In meiner Fantasie war ich nicht leise.
Da war ich Regisseurin, Übersetzerin, Heldin, Erfinderin von Bedeutung.
Es war keine Flucht.
Es war ein Umgang.
Eine Form, das Unbegreifliche zu fassen.
Diese Fantasie war kein Rückzugsort – sie war der Anfang von Gestaltung.
Und sie ist es bis heute geblieben.
Später habe ich es dann doch mit echtem Eskapismus versucht. Ich machte die Nächte zum Tag, verwandelte Wohnungen in Bühnen, spielte mit Wirklichkeiten wie mit Masken. Wollte die innere Welt nach außen stülpen – fühlbar machen, sichtbar, greifbar. Ich suchte nach Intensität, nach Echtheit, nach Durchlässigkeit. Aber oft führte es nur zu noch mehr Chaos. Die Übergänge wurden poröser, aber nicht klarer. Statt Befreiung kam Desorientierung.
Vielleicht war das notwendig – ein Durchgang durch das Ungesicherte, um wieder etwas zu erkennen: dass Fantasie nicht beliebig ist. Dass sie Halt braucht, Form, Entscheidung. Dass Gestaltung eine Art ist, sich zu verankern, nicht sich zu verlieren
Heute arbeite ich mit Fotografie, Video, Textil, Sprache- nicht, weil ich mich nicht entscheiden kann, sondern weil mich das alles interessiert. Die Übergänge.
Die Dinge, die nicht festgelegt sind.
Zustände, die noch nicht eindeutig geworden sind.
Ich suche nicht nach großen Gesten, sondern nach feinen Verschiebungen.
Nach Momenten, in denen etwas auftaucht – ganz kurz – und dann wieder verschwindet. Mich interessiert nicht das, was sichtbar ist, sondern das, was sich beinahe entzieht.
Meine ersten Ausstellungen fanden nicht in Galerien statt. Ich habe auf der Straße gemalt, in besetzten Häusern gezeigt, was ich dachte, was ich fühlte. Nicht aus Protest – sondern aus Notwendigkeit. Aus einem tiefen Wunsch, unabhängig zu bleiben. Nicht geschoben zu werden in Kategorien, Zuschreibungen, Katalogtextsprachen.
Dann studierte und lernte ich: Illustration, Pädagogik, Kunsttherapie.
Aber am meisten habe ich gelernt durch die Arbeit mit Kindern. In Schulen, in psychiatrischen Kliniken.
Dort, wo Sprache oft nicht reicht, beginnt für mich das eigentliche Sehen.
Ich fotografiere analog. Aus Überzeugung. Nicht um etwas festzuhalten, sondern um etwas zu berühren. Das Leise, das Zarte, das, was sich nicht festhalten lässt.
Wir leben in einer Welt, die immer mehr will. Schneller, sichtbarer, lauter.
Die Kunst wird dabei oft zur Pose, zur Ware, zum Spektakel und ich interessiere mich für das Gegenteil: das Unaufdringliche.
Das Unfertige.
Das, was sich nicht erklären lässt und trotzdem berührt.
Fantasie ist für mich bis heute kein Eskapismus- sie ist ein Widerstand.
Eine Geste.
Eine Form von Freiheit.