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Leider bissi cringe

WIE DIE KULTUR UM „CRINGE“ MIR DIE BEGEISTERUNGSFÄHIGKEIT NAHM.  Cringe [krɪndʒ], umgangssprachlich; Definition: auf peinliche, beschämende Weise erschreckend oder unangenehm. ❶

Wir befinden uns in einer Zeit, in der so viel wie noch nie öffentlich gemacht wird. Jede Person, die Zugang zum Internet hat, hat die Möglichkeit, ihre eigene Botschaft in die Welt zu schicken – sei es als Video, Foto oder Text.

Wenn man jedoch große Mengen an Menschen ohne wirkliche Konsequenzen miteinander interagieren lässt, kann dies dazu führen, dass auch die schlimmsten Gedanken geäußert werden. Nirgendwo gibt es eine so niedrige Hemmschwelle für die Aussprache von Drohungen und Todeswünsche wie im World Wide Web – dem Schutz der Anonymität sei Dank.

Abseits von Drohungen, finden leider auch viele Leute daran Gefallen, andere ohne Grund zu erniedrigen. Auf eigens dafür angelegten Instagram-Seiten werden Videos von Individuen hochgeladen, um sich über sie lustig zu machen. Die Namensgebung dieser Accounts folgt einem bestimmten Muster: die Follower werden aufgerufen, das Nicht-Entfolgen aufgrund der „cringen“ Inhalte als Challenge zu sehen (beispielsweise „@trynottounfollowchallenge“ oder „@dont.unfollow.challenge“)


Auffallend oft sind es junge Teenager, neuro divergente Menschen, und vor allem Leute, die dem von der Gesellschaft vorgelebten Schönheitsideal nicht entsprechen, die für diese Seiten als Unterhaltung dienen. Ihr Verbrechen? Ihre Existenz, ihre Interessen und der Mut, diese auszuleben und im Internet zu teilen.

Aber was ist cringe? Wer darf entscheiden, was als cringe gilt und was nicht? Und was macht das mit unserer Psyche, solchem Content ausgesetzt zu sein?

Ich suche mir nicht aus, solche Medien zu konsumieren, jedoch kreuzen sie hin und wieder meinen Feed, wenn ich mal wieder sowieso nichts anderes schaffe als depressiv und doomscrollend herumzuliegen. Dass das dann nicht unbedingt förderlich für die Psyche ist, muss man glaube ich nicht extra erwähnen.

Interessen, die nicht dem Mainstream folgen, werden sehr schnell als cringe abgestempelt, obwohl sie niemandem schaden. Mein persönliches Problem damit liegt vor allem darin, dass ich selbst so ein Teenie war, der mit Leichtigkeit als cringe abgestempelt werden konnte. Zu dieser Zeit war ich, wie es in der Natur der Adoleszenz liegt, emotional instabil und voller Selbstzweifel, so wie vermutlich viele, die in diesen Kreisen an den Pranger gestellt werden. Es handelt sich um Cybermobbing mit Facelift.

Die Rahmenbedingungen des Cringe-Seins werden von den „coolen“ Leuten geschaffen; sie folgen einer Ordnung, die von sozialen Medien und Trends diktiert wird. Sie sind ständig im Wandel, dennoch bleiben einige auch bestehen. Menschen, die ohnehin schon Probleme haben sich anzupassen, aus welchen Gründen auch immer, werden auch abseits der wandelnden Trends sozial ausgegrenzt, da sie ein leichtes Ziel für Hass und Hetze darstellen. Hierbei handelt es sich, wie bereits erwähnt, oft um neurodivergente, aber auch um queere Menschen – Leute, die nicht der Norm entsprechen.

Ich war nie Teil der Mainstream-Coolness und hatte auch Interessen, die ich selbst heutzutage als cringe bezeichnen würde, jedoch bin ich nicht stolz darauf. Es hat mich dazu gebracht, meine Begeisterung für gewisse Dinge im Zaum zu halten; mittlerweile fällt es mir schwer, Begeisterung überhaupt noch aufzubringen, da ich immer hinterfrage, ob das denn jetzt cringe ist. 

Und ich denke, genau das ist das Ziel. Aus Angst vor sozialer Ausgrenzung und öffentlicher Demütigung, die man am Beispiel anderer beobachten kann, passt man sich an. Man behält seine Interessen für sich, vielleicht schämt man sich auch, gewisse Dinge gut zu finden. Aber wird die Welt dadurch nicht viel monotoner?

Eine Person, mit der ich einmal sehr gut befreundet war, geht den Interessen nach, aus denen ich, aus diversen Gründen, unter anderem aber auch dem „Cringe-Faktor“, herausgewachsen bin. Als wir uns durch Zufall wieder einmal begegnet sind und uns unterhalten haben, wurde ich mit folgender Weisheit betraut:

To be cringe is to be free.
Und es stimmt. Ich trauere meinem 15-jährigen Ich, welches diese Einstellung verinnerlicht trug und auch auslebte, hinterher. So unsicher ich auch wegen anderer Gegebenheiten war, ich habe mich nicht so für meine Interessen geschämt, wie ich es heute teilweise tue. 

Vielleicht ist es ein persönliches Problem, vielleicht betrifft es mehr Menschen, als sie zugeben möchten. Mein authentisches Selbst ist stellenweise sehr auf der Strecke geblieben und das würde ich gerne wieder rückgängig machen. Irgendwo weiß ich ja, dass es peinlicher ist, sich für sich selbst zu schämen, als sein wahres Ich zu leben.

Dafür braucht es einfach Mut zu sich selbst. (Und vermutlich eine Pause von den sozialen Medien.)


Duden



FOTO: Pauline Saller