Die Sachen der Toten
Eine Ausnahme zum Konsumismus, ein möglicher Sonderfall des Materialismus. Oder vielleicht eher ein Konzept, das, weit von beiden entfernt, eine mögliche Erklärung für eine rein menschliche Beziehung bietet.
Als meine Oma 2020 starb, war es womöglich einer der härtesten Augenblicke meines 16-jährigen Lebens. Meine Erinnerungen daran sind verschwommen, ich weiß nur, dass nach den gefühllosen Schock-Wochen die Nachricht irgendwann bei mir ankam, dass ich viel geweint habe, dass ich es auch oft nicht ansprechen oder überhaupt erzählen wollte. Woran ich mich aber ziemlich gut erinnern kann, ist, als wir dann nach ein paar Monaten zu Omas leerer Wohnung fuhren. Langsam musste alles aufgeräumt werden, wobei das Wort ,,leer“ auch nicht wirklich dazu passt, denn die Wohnung war vieles, aber garantiert nicht leer. Nicht nur waren noch überall ihre Habseligkeiten – ihre unglaublich große und sicherlich unnötige Schmuck-Kollektion, mit der meine Schwestern und ich öfter gespielt hatten, ihre unendliche Zahl an Schminkprodukten, mit denen sie uns, meine Schwestern und mich, immer geschminkt hatte, was uns so viel Spaß gemacht hatte, ihre luxuriöse Kleidung und ihre Abendkleider, mit denen wir auch oft Prinzessinnen oder, unbewusst, junge, reiche, und unbewusst dann doch böse Damen spielten, ihre Mäntel aus echtem Pelz, die, wie mir erzählt wurde, während der argentinischen Sommerzeit immer in ,,Kühlschränken“ – Klimakammern aufbewahrt wurden, die Möbel, die ich auch schon hundertmal gesehen hatte, das Bett zum Beispiel, in dem ich unzählige Male geschlafen, bzw. im Liegen Ballett getanzt hatte - und natürlich zugleich meinen Opa wach getreten hatte, haufenweise Spielzeug, mit dem mein Vater, meine Schwestern und ich jahrelang gespielt hatten, und Unmengen anderer Kisten, die voller Schuhe, Schachfiguren, Liebesbriefe – o ja, Liebesbriefe –, Fotos, Taschen, Necessaires, Reise-Haartrockner, Schmuckkästchen, Parfüms, Schals, Anzüge und natürlich viel Schmuck, sondern auch Omas Präsenz – man konnte sich ihrer Anwesenheit nicht entziehen. Es war so, als wäre sie einfach für eine Zeit lang verreist und würde irgendwann zurückkommen. Wir verwüsteten in ihrer Abwesenheit wie kleine Kinder ihre Wohnung, ohne an die Folgen zu denken. Folgen gab es aber natürlich keine. Bücher waren auch mit dabei, aber, um ehrlich zu sein, nicht von erwähnenswerter Quantität.
Die Begeisterung blieb eine Zeitlang an mir hängen, ich konnte nicht glauben, wie viele interessante, unbekannte, geheimnisvolle Kisten es gab, die man putzen, durchsuchen, sortieren und letztendlich auch nach Hause transportieren musste. Und trotzdem waren die Augenblicke zwischen dem ganzen Stress und der Aufregung, in denen ich bemerkte, dass sich meine Augen mit Tränen füllen und meine Nase plötzlich anfing zu laufen, gar nicht so selten.
Und so ging es mir auch am Freitag, und gestern, wenn ich ehrlich bin, als der Freund einer Freundin auf meine Sonnenbrille trat, unabsichtlich natürlich, aber dennoch folgenschwer, denn ein Brillenbügel fiel ganz ab. Die Sonnenbrille hatte ich letztes Jahr aus Argentinien mitgebracht und sie gehörte einst meiner Oma. So schmerzhaft es war, hatte die Situation auch etwas Komisches an sich – wie unsicher und schuldbewusst er da plötzlich dastand, ich konnte nicht böse sein, nicht nur, weil es ja trotzdem irgendwie nur ein Stück Plastik und Metall ist, und sich deswegen aufzuregen irgendwie meine Würde verletzen würde, sondern auch weil es ja unschuldig und ohne Absicht geschehen war. Jedoch fühlte ich schnell Tränen in meinen Augen, viel mehr als erwartet und wahrscheinlich auch mehr als gesellschaftlich passend für den Augenblick. Und weil ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte, lachte ich. Ich lachte, meine Freundin lachte mit mir, wir lachten zusammen, plötzlich weinte ich beim Lachen, wir lachten darüber, dass mir Tränen über das Gesicht flossen, und ich verspürte den Drang zu erklären, was mit mir nicht stimmte, warum ich womöglich so übertrieben reagierte. Denn nein, ich wollte keine neue Sonnenbrille, nein, ihr Freund sollte mir um Gottes Willen keine neue holen, ich wusste gar nicht, woher die überhaupt ist, mir ging es gut, ich war nicht wirklich traurig darüber, und als Bestätigung war alles zehn Minuten später wirklich völlig vorbei. Und mit ,,allem“ bezeichne ich hier meine kurze unerwartete Reaktion. Ich hatte die Brille vergessen, ich war nicht mehr gerührt wegen des Brillenbügels und alles war in Ordnung. Und trotzdem finden mich die Tränen ein, zwei Tage danach immer noch.
Die ,,moderne“ Seite in mir weiß, dass man die Brille für 5 Euro (oder mehr, je nachdem, wie motiviert man sich fühlt, diese kapitalistische, wirtschaftsgesteuerte Welt zu unterstützen) repariert kriegt. Dennoch ist meine erste Impulsreaktion der Schmerz – wären es Erinnerungen an meine Oma oder ihr metaphorisches Verletzen. Oder sogar die allgemeine Verbindung, die die Brille, beispielsweise, zu meinem Vater bietet. Und meinen Vater verbinde ich dann selbstverständlich schnell mit meiner Mutter, und keinen von beiden sehe ich zur Zeit und seit 3 Jahren in meinem täglichen, präsenten Leben. Sie sind in Argentinien. Eine große Rolle spielt natürlich auch noch die Art und Weise wie wir, meine Schwestern und ich, erzogen wurden – dass alles, wirklich alles einen Wert hat, dass man Sachen nicht einfach so kaputt macht oder verliert, dass alles sehr ernst wertgeschätzt wird, dass die Vergänglichkeit der Objekte kein Grund für den Konsumismus ist. Dazu kommt natürlich die immer wieder wiederkehrende Sehnsucht nach meinen Eltern.
Irgendwo, wo sich Mensch und Sache treffen, verschwindet die Letztere. Irgendwo, wo eine Sache einem Menschen, lebendig oder tot, zugeordnet wird, verschwindet der Materialismus. Zumindest teilweise. Wenn wir keine neuen Teile kaufen, wenn wir lieber in Second-hand-Läden stöbern oder bei Tanten, Omas oder Opas nach Kleidung, Schmuck oder Schuhen suchen, verlassen wir den Trieb des Konsumismus und die Suche nach dem Menschen beginnt. Das Sich-Sehnen nach dem Menschen, der uns manchmal auch sehr nah war, wird durch die materiellen Dinge, die dem Menschen mal gehört haben, vom Zauberbann erlöst. Nicht ausschließlich natürlich, nein, Erinnerungen, Gedanken, Gespräche, Witze, die man einst teilte, tragen auf jeden Fall auch Teile dieser Person, und dennoch findet man in den Objekten teilweise auch Partikel, die uns näher zu diesen Menschen bringen.
Es geht einem dann irgendwann nicht mehr um das Objekt, sondern ausschließlich um die Person, die es getragen, damit gespielt, es getrunken, gegessen, gesagt oder irgendwie gerochen hat. Es geht uns nicht um die materialistische Perspektive der Sache, sondern auch um das Abstrakte – die Gerüche, die Worte, die oft wiederholt wurden, die Manieren, die Schrullen – aber halt auch deren materialistische Gegenstände.
Eine ehemalige Freundin ruft nach jahrelanger Funkstille und absolut null Kontakt, als meine mittlere Schwester und ich schon geboren waren, meinen Vater an, und bittet ihn, sie in das Haus ihrer vor einer Woche verstorbenen Mutter zu begleiten, weil sie es alleine nicht schaffen würde. Er geht mit und lernt an dem Tag etwas vermutlich ganz Neues: Der erste, und womöglich auch die nächsten paar, Besuche des Elternhauses, nachdem sie nicht mehr da sind, ist wahrscheinlich einer der schwierigsten Augenblicke. Natürlich kann man sich diesen Gefühlsluxus nur leisten, wenn man zu dem extrem privilegierten Teil der Welt gehört, der noch Zeit, Energie und Raum für das Ausleben solcher Emotionen hat.
Auswirkungen der nicht-kapitalistischen Begeisterung der Menschheit gegenüber Gegenständen können wir in Museen, Kunstgalerien und in der archäologischen Forschung erkennen. Wir exponieren Objekte, die uns auf verschiedene Art und Weise wichtig, interessant oder bewundernswert vorkommen. Und es geht dann nicht um das Kaufen, den Konsum dessen, sondern rein um die Bedeutung, die die besonderen Dinge für unsere Geschichte, unsere Kunstwelt, unsere Bildung oder Weltwissen haben. Die ,,Sache” verliert also wieder den materiellen Wert und entpuppt sich als völlig abstrakte Einheit, die uns unsere Vergangenheit erklärt, unsere Fantasie ernährt oder uns einfach zum Nachdenken, zum Lernen bringt. Wir bewundern keine Argentinosaurier-Oberschenkel, weil wir auch welche bei uns zu Hause haben wollen, sondern weil wir Neugier für das Unbekannte, das Uralte empfinden. Das Gleiche widerspiegelt sich auch in Monets Kunstwerken – wir bewundern die Weltsicht, die Interpretationen anderer Menschen.
Wir, als soziale Wesen, suchen das Menschliche. Egal, ob es sich um jemanden handelt, der/die längst verstorben ist, oder ob es Menschen sind, die noch lange bei uns sein werden. Wir unterscheiden diese stechende Grenze nicht, weil sie unser Ziel, das Menschliche zu finden, einzunehmen und es in geteilte Erinnerungen, Gefühle oder Ideen zu verwandeln, nicht berührt. Und natürlich spielen auch Traurigkeit, Sehnsucht oder das Vermissen eine gewisse Rolle, aber diese Emotionen koexistieren mit der Suche nach der Nähe zum nächsten Menschen. Das sehen wir in der Form von Gegenständen, Orten, Gerüchen, Geschmäckern, Hilfeleistungen, Begleitungen, Augenkontakten, freundlichen Lächeln oder, zuletzt auch, in Konversationen – es ist der Austausch, sei es zwischen Menschen oder zwischen Menschen und gewissen Objekten.
Ich fand in der Sonnenbrille meiner Oma eine Verbindung zu ihr. Diese Verbindung ist, solange die Brille kaputt bleibt, etwas verletzt worden. Hoffentlich finde ich demnächst einen Menschen, der sie reparieren, mir da helfen kann.