ZWISCHENAUSGABE /// 10 ARTIKEL – 10 WOCHEN /// IMMER DONNERSTAGS  

Vom Stummschalten der Welt


Eskapismus, der ❶ 
[engl. escapism Wirklichkeitsflucht] […] Flucht vor der Realität, ggf. als Abwehrmechanismus.

Ein Wort, das von unserer Generation (Z) großgeschrieben wird. Flucht vor Informationsüberflutung, Schnelllebigkeit, dem grauen und grausamen Alltag (Ukraine – Russland Konflikt, Genozid im Gaza-Streifen, Einschränkung der LGBTQIA+- und somit Menschenrechten, Erstarken der rechtsextremen Parteien, etc., etc.) und fehlender Zukunftsperspektiven. Flucht wohin? Flucht in ein dunkles Zimmer, Soziale Medien, Filme und/oder Serien oder ins Nachtleben…Hauptsache nicht mehr mitbekommen müssen, was da draußen vor sich geht. Häufig handelt es sich dabei um ungesunde Mechanismen, die auf Dauer mehr schaden als helfen. 

Irgendwann bekommt ihr noch viereckige Augen – der Lieblingssatz meiner damaligen Kinderbetreuung, wenn wir Kinder vorm Smartphone, Laptop oder Fernseher aufgefunden wurden. Geht mal raus an die frische Luft oder lest ein Buch. Ich kann mich noch an meinen ersten Bibliotheksausweis (für die Stadtbibliothek Vilshofen a.d. Donau) erinnern – und an das erste Buch, das ich dort ausgeliehen habe (ein Pferderoman – was sonst). Während ich bis ins Teenageralter meine Freizeit mit der Nase in sämtlicher Jugendliteratur verbracht habe, ist mir durch das unendliche Lesen wissenschaftlicher Arbeiten im Rahmen des Studiums die Lust auf Lesen im Privaten vergangen. Da muss sich was ändern – diesen Gedanken kennen wahrscheinlich die meisten von uns, ganz besonders zu Silvester. Ehrgeizig und konsequent, wie ich bin, habe ich seit 2023 die gleichen Vorsätze: mehr raus ins Leben, weniger Social Media, mehr Lesen und dabei unzählige Melanges trinken (merkt ihr, wie sehr ich Wien verinnerlicht hab?) und natürlich das Übliche: gesund ernähren, Yoga, früh aufstehen und mein Leben irgendwie in den Griff bekommen. 2025 ist es jetzt (hoffentlich) endlich so weit, mein Lese- (und mittlerweile auch Schreib-)vorhaben in die Tat umzusetzen. Während der ersten Spaßlektüren im Frühjahr habe ich die einkehrende Ruhe in mir wiederentdeckt, dieses vollkommene Abschalten und Ausblenden – ich schaue tatsächlich allein keine Serien mehr. Für mich persönlich also eine deutliche Verbesserung meiner Freizeitgestaltung, denn solange mensch nicht wie Don Quijote voll und ganz in einer Fantasiewelt verschwindet und mit bloßer Hand gegen Windräder ankämpft (Windmühlen gibt’s heutzutage ja nichtmehr viele), fallen mir kaum (eigentlich gar keine) Nachteile ein, die das Lesen mit sich bringt. 

Sich in das Lesen von Literatur zurückzuziehen beziehungsweise das Produzieren von Literatur als Fluchtmechanismus vor der Realität zu nutzen, ist spätestens ab der Behandlung der Epoche der Romantik in der Oberstufe bekannt. Und doch habe ich mir noch nie konkrete Gedanken darüber gemacht, welche Formen Eskapismus auf Papier einnehmen kann. Glücklicherweise gibt’s in meinem Komparatistikstudium für viele Fragen ein passendes Seminar. Zum Beispiel zum Thema Schauerliteratur und die damit einhergehende Entstehung von Traumwelten, aber auch zum konträren Ansatz, der Wahrheit und Wirklichkeit teilweise bis gänzlich den Rücken zuzuwenden, anstatt einen Zufluchtsort zu schaffen. Im Zuge meines derzeitigen Seminars mit Fokus auf Verneinung in der Literatur kann und möchte ich euch einen kleinen Lesetipp geben, der sich perfekt für eine spaßige Lektüre zwischendurch eignet. 

Der französische Schriftsteller Emmanuel Bove (1898-1945 ❸) hat sich bereits 90 Jahre vor mir mit Flucht vor und Ablehnung der gesellschaftlichen Normen beschäftigt. In seinem Roman Die Ahnung (original: Le Pressentiment, 1935) beschließt der Protagonist Charles Benesteau mit seinem bisherigen Leben abzuschließen. Er ist müde von der oberflächlichen Art der Oberschicht und den niemals endenden Gesprächen über Geld und Eigentum geworden, daher verlässt er seine Familie und zieht in eines der ärmsten Stadtviertel von Paris. Doch sein Plan, sich jeglichem sozialen Kontakt zu verweigern und in absoluter Ruhe ein Buch zu schreiben, geht nicht ganz auf. Charles Benesteau nimmt die Leser*innen mit in das Paris der frühen 30er Jahre und malt sowohl die kitschig schönen als auch die hässlichen Seiten der Stadt und ihrer Einwohner*innen auf. Diese kurze und knackige Geschichte eignet sich wunderbar, um mit einer Leseroutine zu beginnen oder wieder hineinzufinden. Die für uns fremde Szenerie gibt den Leser*innen die Möglichkeit kurz an einen weit von unserer Realität entfernten Ort abzutauchen und diese vorübergehend auf Flugmodus zu schalten. Trotzdem regt Charles Benesteaus Erleben und seine Gedanken dazu an nachzudenken, zu reflektieren und mitzufühlen. Denn der menschliche Wunsch nach Veränderung und dem Entfliehen der (eigenen) Wirklichkeit ist über die Jahrhunderte erhalten geblieben und stellt daher kaum eine Herausforderung dar, das Geschriebene zu entschlüsseln und zu verstehen. 

Des Weiteren möchte ich auf ein Event der Literaturbranche Wiens hinweisen: ein Teil des Internationalen Lyrik Festivals findet dieses Jahr vom 03.06. bis zum 06.06.2025 im Literaturhaus Wien ❹ statt. Also besser der grausamen städtischen Hitze entkommen und hin da! 

Das Schreiben eigener Texte, insbesondere Lyrik, ist für mich selbst ein Rückzugsort geworden und ein Weg meine Gedanken und Gefühle zu ordnen und dadurch vielleicht auch etwas besser zu verstehen. Lyrik als Genre hat mich schon vor meinen ersten Schreibversuchen sehr begeistert und angezogen. Wahrscheinlich, weil es guttut, mich in den Worten anderer wiederzufinden. Es entsteht ein Moment des Sich-Gesehen-Fühlens. Mit der Zeit ist das Erzeugen eben dieser Sequenz zur Motivation geworden, meine Texte an die Öffentlichkeit zu tragen und damit anderen vielleicht etwas Last abnehmen oder etwas zum Festhalten geben zu können. Hier in unserem (noch) kleinen Magazin möchte ich gerne Gedanken zu den jeweiligen Themen auf meine Art zum Ausdruck zu bringen. Ich hoffe sehr darauf, dadurch etwas Sichtbarkeit schaffen zu können und die ein oder andere Person zum Fühlen zu bringen. Wenn euch gefällt, was ich hier mache, dürft ihr auch gerne auf meinem Instagram @pauline.saller vorbeischauen (ich muss bisschen Eigenwerbung machen, um meinem inneren Kind den Lebenstraum, nämlich berühmte Schriftstellerin sein, erfüllen zu können). 

Für diese Ausgabe habe ich versucht das Gefühl der Unerreichbarkeit, des Über-den-Dingen-Stehens festzuhalten. Für mich ein Moment des Stillstands, des Schwebens und der absoluten Taubheit – in etwa so, wie es sich anfühlt mit dem Kopf in der Badewanne unterzutauchen, sodass die Ohren unter Wasser und die Augen direkt gegen die Decke gerichtet sind; aber auch ein bisschen wie der Tinnitus nach einer langen Nacht auf der Tanzfläche direkt neben diesen riesigen Musikboxen. Letzten Endes habe ich mich dazu entschieden, mir dieses Gefühl als große Blase vorzustellen, ohne Inhalt, ein Vakuum.


❶ https://www.duden.de/rechtschreibung/Eskapismus (Zugriff, 23.04.2025)❷ https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/eskapismus (Zugriff, 23.04.2025)
❸ https://www.emmanuelbove.de/ (Zugriff 07.04.2025)  
❹ https://www.literaturhaus-wien.


PAULINE SALLER