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Hunger auf Farbe, Angst vor dem Weiß


Als ich dachte, ich würde die Kontrolle über mein Leben verlieren, habe ich mich dazu entschieden, mich einem anderen Leben zu widmen; und zwar dem der Zimmerpflanze. 

Es war Winter, meine Fenster waren undicht und meine Mitbewohnerin sprach kein Wort mehr mit mir. Ich hasste, was ich studierte, hatte wenig Motivation raus zu gehen und rauchte jede halbe Stunde wegen meiner Prüfungsangst. Der einzige Trost in meiner tristen Wohngemeinschaft war eine, über meinem Bett hängende, Lichterkette von Ikea, die mir in der kalten Jahreszeit etwas Geborgenheit gab. Ich war zutiefst unglücklich mit meiner Wohnsituation und fühlte mich von den leeren Stellen der kahlen Wände beobachtet. Es war jener Tag, an dem ich meiner Nachbarin einen Besen zurückgab, den wir uns von ihr ausgeborgt hatten, als sich zwar nicht die Beziehung zu meiner Mitbewohnerin, dafür aber mein Verständnis von Raum, Licht und Farben stark verändert hat. 

Ich trete in die Wohnung meiner Nachbarin ein und fühle mich auf einmal wie in „Goldfische“ von Matisse. An einem dunklen Holztisch stehen pastell blaue Stühle, die aussehen wie offene Muscheln. Auf den Wänden hängen verschiedene Kunstwerke von teils bekannten Namen, teils Werke aus eigener Hand. Jede Ecke wird durch eine bewusst platzierte Pflanze geglättet, wodurch der Raum, gemeinsam mit den Spiegeln, unendlich groß wirkt. Mein Lieblingsattribut der Wohnung ist ein Riesen- Elefantenohr, das neben der Couch thront. Die Pflanze schmiegt sich perfekt zwischen das Möbelstück und der Wand und gibt die Illusion eines Dschungels. Zu jeder Tageszeit begrüßen die Räume einen in einem anderen Licht: Am Vormittag, wenn die Sonne direkt in die Fenster scheint, beregnen einen hundert kleine Sonnenreflektionen ausgehend von der Discokugel auf dem Fenstersims. Am späten Nachmittag wird, je nach Jahreszeit, manchmal gern das ein oder andere Licht eingeschalten, was vorsichtig und sanft den Anfang des Tagesendes andeutet. Je später es wird, desto mehr Lampen werden angeknipst und verwandeln den Raum in ein Theater.  



Wie bei so vielem kann man die Schönheit des Augenblicks kaum in Worte fassen, jedoch hatte dieser Moment so einen starken Einfluss auf mich, dass mich die Lust packte, meinem Elend ein Ende zu setzen und meine Wohnung auf den Kopf zu stellen. Ich nutzte jede Ecke unserer Wohnung, um sie zu personalisieren. Ich fing an, die Funktion eines jeden Möbelstücks und seine Existenz zu hinterfragen. Brauche ich einen langen, unpraktischen, aschfarbenen Tisch in unserer kleinen Küche? Wie überwinde ich die gähnende Leere dieser großen Altbauwände?  Was mache ich aus diesem schmalen, ausladenden, dunklen Gang? 

Ich wollte Antworten auf all diese Fragen finden und ging auf die Suche nach Lösungen. Statt dem langen Tisch, dessen einziger Nutzen darin bestand, darauf Beer Pong auf Partys zu spielen, nahm eine senffarbene, samtige Couch den Platz in der Küche ein. Jeder Quadratmillimeter wurde genutzt: Neben der Couch ruhte ein Mid-Century Servierwagen, auf dem kleine Dekorationen standen, die als Beweis galten, wie weit ich schon in meinem bisher kurzen Leben gereist war. Filmplakate, die ich aus dem Kino, in dem ich arbeitete, besorgte, überdeckten langsam die Löcher an der Wand und verdeckten alles, was nicht gern gesehen wurde. Im Gang platzierte ich verschiedene Möbelstücke, die ich auf der Straße, gemeinsam mit einer Freundin (und späterer Mitbewohnerin), fand. Unser Lieblingsort wurde ein Antiquitätenladen, von dem wir uns beinahe täglich inspirieren ließen. Jedes Mal stach mir etwas ins Auge, von dem ich überzeugt war, es würde die Atmosphäre meiner Wohnung verbessern: hinterlassene Fotografien fremder Familienfeiern, polierbedürftige Spiegel mit Sprüngen, lächerlich kitschige Lampen- nichts entging meinen Adleraugen. 

Langsam wurde der Ort, den ich zu Hause nannte, mehr zu einer Lokalität, in der ich lebte und nicht mehr überlebte. Es wurde ein Teil meiner Persönlichkeit, die Objekte im Raum zu überdenken, neu zu positionieren und auszutauschen. Am Anfang war alles noch willkürlich. Ich hatte Hunger auf Farbe und Angst vor dem Weiß. Mit der Zeit wurde mein Umstellverhalten strategischer und ich las mich in Theorien wie Feng-Shui ein. Alles hatte seinen perfekten Platz. Doch das war mir nicht Ausgleich genug. 

Tage, nachdem ich meine wunderschöne Nachbarwohnung kennenlernen durfte, stand ich ratlos in einer Obi-Filiale. Ich hatte eine Mission: Ich will mehr Leben in meine vier Wände bringen. So widmete ich mich der Pflanzenwelt. Unsere Wohnung war eher dunkel, weshalb ich vor meinem Unterfangen eine ausgedehnte Recherche über die Bedürfnisse meiner zukünftigen Mitbewohnerinnen betrieb. In meinem Einkaufswagen sammelten sich Calathea, Efeutute, Kroton und Monstera. Ich fühlte mich fast schon divin, als ich die vielen Pflanzen, die kaum in meiner Hand Platz hatten, durch die Stadt in ihr neues Zuhause beförderte. Meine Zeit dedizierte ich fortan großteiles der Pflanzenkunde. Ich war überrascht davon, wie viel wohler ich mich durch diese kleinen Dinger in meiner Wohnung fühlte. Pflanzen wurden besorgt, umgetopft, gegossen, getrimmt, angesprüht, bestaunt und geküsst. Zu meiner Blütezeit befanden sich in unserer 70m² Wohnung über 50 Pflanzen, die jeden Tag versorgt werden wollten. Wie Kratzer im Boden beim Umstellen, gab es auch hier ein oder eher drei, vielleicht auch vier oder fünf, Opfer meiner anfänglichen Unbeholfenheit. Meine Liebe und Zeit allein waren nicht immer genug, um das kurze Leben der Zimmerpflanze zu düngen. Jedoch überstand ich diese Rückschläge schnell, meine Wohnung verwandelte sich mehr und mehr in einen tierlosen Dschungel. Jeder Besucher und jede Besucherin mussten sich einer, von mir gut vorbereiteten, Führung durch jenes tropische Habitat unterziehen. 

Den Höhepunkt erreichte der Einrichtungswahnsinn, als meine alte Mitbewohnerin, durch eine Freundin ersetzt wurde. Wir beide sehnten uns nach einem Zuhause und Freiheit. So sollte es auch sein: 

Sie war wie eine Elster namens Nina, die jedes Mal, als sie nach Hause kam, einen neuen Schatz mitbrachte, solang dies nur genug in ihren Augen funkelte.  Mal war es ein Tisch, ein anderes Mal ein Topf, dann doch wieder Bananen, die sie nachts aus fremden Mülleimern fischte. Zusammen mit unserer Nachbarin Marina schafften wir unser Universum, das wir liebevoll nach einer Verschmelzung unserer Nachnamen tauften- geboren war die WG Franzeling. Selten verließen wir ohne einander das Haus, diese Zeit war geprägt von Exzess und Ekstase. Die Wohnungen waren wie ein Spielplatz, auf dem wir uns kreativ austobten und unsere Liebe zur Inneneinrichtung auslebten. 

Wie alle guten Dinge hatte auch diese Periode einmal sein Ende. Unsere geliebte Nachbarin zog in ein anderes Land und vererbte uns ihre Pflanzen. Ich entschied mich (endlich) für ein anderes Studium in einer anderen Stadt. Meine Mitbewohnerin und ich verabschiedeten uns schweren Herzens von unserem hart erkämpften Zuhause. Der Umzugswagen war voller alter Möbel, (noch) lebendigen Pflanzen und leiser Hoffnung, einmal wieder eine so unheimlich warme Zeit in den kalten Wintern erfahren zu dürfen. Mittlerweile ist es nicht mehr die Lichterkette von Ikea, die mir Geborgenheit gibt- es ist der gebrochene Spiegel, der braune Servicewagen, die vielen kleinen Fotografien, der mit Wachs umrandete Kerzenhalter und der bisschen modrig stinkende Teppich auf meinem Boden. Nun ist es fast Sommer, ich mag, was ich studiere und ich verkrieche mich freiwillig in meinen vier bunten Wänden, die die bittersüße Erinnerung an ein ehemaliges Zuhause wecken, das ich mir selbst Stück für Stück aufgebaut habe.