Eskapismus
Immer wenn der Himmel sich von Tag zu Nacht beginnt zu neigen, ändert sich mit dem Licht auch die Luft. Das Dach über meinem Kopf drückt dann wie eine schwere Decke auf meine Wohnung und die Schatten trauen sich wieder aus den Ecken. Die Nacht und ich, wir sind alte Freunde und trotzdem wollte ich als Kind nie schlafen gehen. Dieses Gefühl sitzt bis heute irgendwo in mir und wartet jeden Abend wieder auf mich. Dabei bin ich in der Dämmerung zuhause, in dem Dazwischen. Wenn es noch still ist oder langsam still wird und der Himmel seine Farben ausbreitet über dem ersten oder letzten Licht des Tages. Im Dämmerlicht betrachtet ist alles, was ich bei Tag fühle, plötzlich nicht mehr fehl am Platz. Es ist, als wären all meine tiefen, dringlichen Emotionen im Tageslicht so schmerzlich sichtbar, so unvorteilhaft ausgeleuchtet und bei Nacht so viel schwerer, so finster oder von künstlichem Licht geblendet. Im Halbdunkel aber fließen die Tränen leichter und die Melancholie streckt sich wie eine Katze im Schlaf. Wenn sich die Dämmerung in mir mit der Dämmerung im Außen trifft, dann fühlt es sich für einen Moment so an, als wäre alles im Gleichgewicht. Und dann ist er vorbei; dieser flüchtige Moment, bevor er ein paar Stunden später wiederkehrt. Dieses Flüchten, das die Zeit jeden Tag und jede Nacht unaufhaltsam macht, das machen wir Menschen auch. Ich glaube, es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt. Solche, die vor sich selbst wegrennen und sich in die Welt da draußen flüchten und solche, die der Welt den Rücken zukehren und die Flucht ins Innere ergreifen. Eines haben wir alle gemeinsam: unseren Fluchtinstinkt. Seit ich denken kann, will ich wegrennen - auf die Straße, ins Schwimmerbecken, in die große weite Welt, auf die Felder, ins Meer, zu mir, zu mir, zu mir, da wo ich mich finden kann auf dieser Erde. Meine Mutter und ich lachen darüber, wenn wir uns daran erinnern, wie ich, sobald ich laufen konnte, immer und überall davongelaufen bin. Meistens, weil ich etwas gesehen habe, das mich fasziniert oder gepackt hat und die Verbindung zwischen meinem Kopf und meinen Beinen war sehr kurz, also rannte ich einfach drauf los. In ihren Lachfalten sehe ich den liebevollen Blick auf ihr Kind mit der unbändigen Energie. Was damals an ihrem Nervenkostüm gezerrt und Sorgenfalten ins Gesicht gezeichnet hat, ist mit dem nötigen Abstand eine Erinnerung in warmen Farben. Es ist merkwürdig, wie man auf so viele verschiedene Weisen flüchtet im Laufe eines Lebens, denn ein paar Jahre später war ich ein Teenager, der aus ganz anderen Gründen flüchten musste. Vor Schmerz, Angst und Trauer und doch flüchtete ich immer noch zu mir, suchte mich, versuchte vor allem, mich wiederzufinden, irgendwo auf dieser Welt oder zumindest in meiner Stadt. Genauso wie damals als kleines Kind wusste ich aber immer noch nicht, was ich da tat. Es war fast wie ein Instinkt, der lange bevor auch nur an mich zu denken war, schon existierte. Ich hatte Glück, denke ich heute, dass ich nie wirklich vor mir selbst fliehen wollte. So hat es sich natürlich nicht immer angefühlt, das tut es bis heute ehrlich gesagt oft nicht, aber bei näherer Betrachtung ist es nicht so, wie es mir vorkommt. Das größte Drama meines Lebens besteht darin, dass ich immer wieder versucht habe, nicht ich zu sein und nach wie vor oft das Gefühl habe, anders sein zu müssen, um in diese Welt und in das Leben zu passen. Wenn meine großen Gefühle, mein tiefes Empfindungsvermögen und meine Sensibilität mir auf die Brust drücken, mich müde machen oder trennen von den Menschen um mich herum, merke ich, wie er an mir zerrt; der Fluchtinstinkt. Auf den ersten Blick sieht es aus, als wollte ich mir selbst entkommen und auch als Teenager, wenn man mich von außen betrachtet hat, sah es wahrscheinlich aus, als würde ich mich selbst jagen. Oberflächlich gefühlt empfinde ich es auch so und der Gedanke, jemand anders sein zu wollen, ist ein gut trainierter Muskel, der schnell greift. Und trotzdem: all das ist nicht die ganze Wahrheit, ich flüchte nicht vor mir, sondern zu mir. Als Kleinkind habe ich etwas gesehen, das etwas in mir angesprochen hat und bin darauf zu gerannt, als Teenager hatte ich das Bedürfnis nach mehr Raum, mehr Freiheit, bin aus meinem Kinderzimmer rausgewachsen und auf die große Stadt mit den vielen Möglichkeiten zu gerannt. Und heute, wenn meine Gefühle zu groß für meinen Körper sind und ich nicht weiß, wie ich sie alle in mir beheimaten soll, dann renne ich auf die Musik zu. Wenn wir flüchten, wovor auch immer, auf Partys, zu Konzerten, in die Musik, ins Meer, in die Sonne, zu Freund*innen, wohin auch immer, dann tun wir das nicht um uns zu entkommen, sondern um uns dort zu finden. Manche von uns suchen dort einen Teil von sich, der grade schmerzlich fehlt. Die innere Ruhe, Leichtigkeit, Freude. Andere von uns suchen an diesen Orten die Freiheit all das, was wir sind, fühlen, sein, leben zu dürfen, auch wenn es schmerzhafte oder schwere Teile von uns sind. Man nennt es Eskapismus, wenn wir uns in etwas flüchten, das nicht aus uns kommt und meint damit Realitäts- oder Wirklichkeitsflucht. Meine Art von Eskapismus ist es mich vollkommen in meine Wirklichkeit fallen zu lassen, auch wenn das bedeutet auf etwas außerhalb von mir zuzurennen. Denn am Ende empfinde ich nichts wirklich als getrennt von mir. Auch wenn es sich für mich manchmal nicht so anfühlt, bin ich Teil dieser Welt, nehme Teil am Leben anderer und alles davon ist miteinander verbunden auf die eine oder andere Weise. So wie ich den Himmel sehe, sieht ihn niemand anders und so wie ich Musik mache, macht es niemand anders. Alles, was ich sehe, höre, fühle und bin ist einzigartig und diese Realität überschneidet sich mit unendlich vielen anderen Realitäten. Ich fliehe also nicht vor mir oder vor der Welt. Ich suche mich in meiner Musik, in der Natur, in dem nebligen Blitzlicht tanzend, in den Armen der Menschen, die ich liebe. Und am Ende finden sich all diese Dinge in mir wieder. So schließt sich der Kreis. Ich lasse mich nicht zurück und renne auf etwas Fremdes zu. Ich renne auf Teile von mir zu, die ich überall auf dieser Erde finden kann, die ich dort vermute oder spüre und alles, was ich vorher war, bleibt bei mir und verwebt sich mit neuen Seiten, die ich an mir entdecke. Und in ein paar Stunden, wenn die Dämmerung mich wieder findet, werde ich für einen Moment stehen bleiben und das Gefühl haben, dass ich zuhause bin, überall da wo sie ist.