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romantisieren statt realisieren


Eine weite Landschaft unterbrochen von einem sich in sich zerfallenden Sakralbau, die Zeit hat ihn eingeholt, die Natur erobert ihn sich zurück, Gotik – was einst in den Himmel ragte, wird erneut weltlich. Asche zu Asche, bis aus ihr neues erwacht. 

Europa um 1800: Restaurationen, Reformen und Revolutionen. Mit dem Anbruch des Zeitalters der Industrialisierung geht ein enormer gesellschaftlicher Umbruch einher, dessen Auswirkungen sich in sämtlichen Kunstrichtungen wiederfinden lassen und das damalige Kunstverständnis völlig neu formen. Mit der Erfindung der Dampfmaschine und des mechanischen Webstuhls beschleunigten sich Produktionsprozesse erheblich, Fabriken wuchsen und Städte erhielten immer mehr Zuzug. Während ein Teil der Bevölkerung immer wohlhabender wurde, lebte der Großteil, das Proletariat, in Armut und Ausbeutung. Aufklärung und Wissenschaft schritten Hand in Hand voran und sprachen der (inneren) Gefühlswelt eines Individuums ihre Bedeutung ab. Dieser abrupte Wandel überforderte und brachte viele Künstler*innen zum Umdenken. Es entstand eine Sehnsucht nach Ruhe und Langsamkeit, wie sie nur in der Natur zu finden ist. Ebenso flüchteten sich viele Künstler*innen in das Unterbewusstsein und die Traumwelt, um einen Raum für die eigenen Emotionen und Ängste zu schaffen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Francisco de Goyas El sueño de la razón produce monstruos (zu deutsch Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer), aus der Sammlung Los Caprichos von 1799. Zu sehen ist de Goya selbst, schlafend auf einen Tisch, mit der Inschrift des Titels, gestützt und von dunklen Fabelwesen umgeben. Den Kontrast zwischen Vernunft und Emotion unterstreicht seine Arbeitstechnik mit Aquatinta ❶ (eine Drucktechnik mit Tuschätzung, bei der nicht Linien gezogen, sondern Flächen eingefärbt werden), wodurch zahlreiche Schattierungen entstehen, welche sich in Richtung Hintergrund immer mehr verdunkeln, sodass die Gesichter der Wesen nicht mehr zu erkennen sind. Diejenigen direkt hinter dem Schlafenden ähneln Eulen und Katzen; ihre Mimik geht über einen ernst- bzw. boshaften Ausdruck bis hin zu weit aufgerissenen Augen und zum Schrei verzerrten Mäulern. Ausgestellt wird das Werk heute im Brooklyn Museum, New York). ❷

Aufgrund der kaum erträglichen Lebensumstände wurde die, dem Mittelalter entsprungene, Haltung der contemptus mundi in der Kunst wieder nach außen getragen. Die irdische und nicht lebenswerte Welt wird verachtet und abgelehnt, da sie als Sinnbild der Sünde galt. ❸ Die Erhaltung seiner selbst dient nur dem Warten auf Erlösung, um im Jenseits göttliche Vollkommenheit zu erlangen; „alles [W]issen, alle [K]unst der [M]enschen sei [sic] werthlos, wenn sie nicht geradeswegs hinführen zu dem [L]eben in [G]ott.“❹ Bis dahin wurde versucht das Erhabene, Göttliche in der Malerei zu finden und abzubilden. Das Motiv des Sublimen verwirklicht sich in großen und weitläufigen Naturlandschaften, wie Klippen, Gebirgsschluchten oder dem Meer; der Mensch wirkt im Vergleich dazu klein und zerbrechlich. Diese Unterlegenheit erzeugt ein leichtes Unbehagen – das ozeanische Gefühl. 

William Turner (1775-1851) meistert eben dieses Empfinden einzufangen und festzuhalten. In zahlreichen stimmungsvollen Landschaftsbildern (zuerst Aquarell, dann auch auf Öl) nutzt er das Farb- und Wettergeschehen, die bei Betrachter*innen große Gefühle auslösen. ❺ Sein Werk Rain, Steam, and Speed – The Great Western Railway (1844) nimmt Bezug zur raschen Entwicklung der Industrialisierung. Allein dem Titel ist bereits eine triste, angespannte Stimmung zu entnehmen. Während verschiedene Pastelltöne ineinander verschwimmen und regenähnlich die Sicht der Betrachter*innen trüben, sticht im unteren rechten Viertel die Eisenbahnbrücke Maidenhead in dunklen Brauntönen scharfkantig ins Auge. Auf die Betrachterin/den Betrachter rast eine Dampflokomotive zu, ihre Geschwindigkeit drückt Turner durch den verblassenden und kaum erkennbaren Hintergrund aus. Der Zug ist detailreich ausgearbeitet, durch die Zugfenster scheint trübes Licht. Die Scheinwerfer ziehen den Fokus auf sich, heben sich strahlend hell von der schwarzen Lock ab. Ebenso auffällig ist ein kleines Ruderboot, das unterhalb der Brücke auf der Themse treibt. Am linken Bildrand ist eine helle, fast zaghafte Spiegelung der beiden Brückenbögen zu sehen. Der deutliche Kontrast zwischen der Schnelllebigkeit mit Beginn der Industriegesellschaft und der ruhigen Atmosphäre des Bootes wurde von Turner ursprünglich noch durch einen, auf den Schienen sitzenden, Hasen ergänzt. Dieser ist mittlerweile aufgrund der Alterung des Werks nicht mehr sichtbar. The Great Western Railway kann heute in der National Gallery in London besucht werden. ❻

Caspar David Friedrich (1774-1840), der wohl bekannteste Maler der deutschen Romantik, verknüpft überragende Landschaften mit religiösen Symbolen und verleiht dem Sublimen dadurch noch mehr Ausdruckskraft. In seinem Werk Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar, 1808) rückt er den ans Kreuz genagelten Christus in den Vordergrund. Auf einem dunklen, von Nadelbäumen umrahmten, Felsen aufgestellt hebt sich das Kreuz vom rosa gefärbten Abendhimmel ab. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages leuchten hinter dem Hügel hervor; ihre scharfen Konturen wirken wie die Zeichnung eines Heiligenscheins. Hier zeigt der Künstler auf, was in der damaligen Realität verloren ging. ❼

Der Wanderer über dem Nebelmeer (1817) ist Sinnbild für das, in der Romantik neu entstandene, Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Der Blick der Betrachterin/des Betrachters fällt, genau wie der des Wanderers, auf eine vom aufsteigenden Nebel umhüllte Gebirgslandschaft. Die Figur, die nur von hinten zu sehen ist, steht auf einem Felsvorsprung und hat somit freie Sicht; Unendlichkeit wird fühlbar. In einem festen, sicheren Stand steht er entspannt da und lässt seinen Blick und Gedanken schweifen. Das Werk lädt ein, ebenso zu verweilen und seine Eindrücke aufzunehmen. Der Mensch verschmilzt mit seiner Umgebung und kann so zur Ruhe kommen. ❽


Phillip Otto Runge (1777-1810), Vorläufer der Künstler*innen der Romantik, sah seine Kunst ebenfalls im engen Zusammenhang mit Religion. In seiner Farben-Kugel oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen stellt er unter anderem die Dreifaltigkeit dar; die Farben Rot, Blau und Gelb sind für ihn das „simple Symbol [sic] des Dreyeinigkeit Gottes“. ❾

Dennoch ist das Voranschreiten der Industrialisierung und die damit einhergehende schrumpfende Bedeutung der Kirche nicht aufzuhalten. Abgebildet wird dies in der Klosterruine Eldena bei Greifswald, einer düster ausgeleuchteten Szene, dominiert von Grau- und Grüntönen, mit einem hoch aufragenden, verfallenen gotischen Bauwerk im Zentrum. Gewaltige Eichenbäume flankieren die massiven Steinwände, winzige Menschenfiguren verlieren sich darin. Caspar David Friedrich zeigt erneut die Schwäche und Vergänglichkeit des Menschen im Gegensatz zu seiner Umwelt auf, der Lauf der Zeit kann nicht verhindert werden. Die Sanduhr läuft ab, wird umgedreht und Neues entsteht. 

Wer sich in diesem Sommer selbst nach Transzendenz sehnt oder einfach eine kleine Flucht aus der Gegenwart sucht, hat dazu bald Gelegenheit: Die Ausstellung „Fernweh – Künstler auf Reisen“ in der Wiener Albertina (ab 27. Juni 2025) lädt dazu ein, sich in romantische Landschaften zu träumen – von Caspar David Friedrich über Jakob Alt und Thomas Ender bis zu Tina Blau. Zudem bietet die Ausstellung die Möglichkeit, einige Kunstwerke Goethes zu bewundern.


① Höritzsch, J., Die Aquatinta.                                                                         https://www.juergen-hoeritzsch.de/printmaking-art/aquatinta.htm (Zugriff: 06.05.2025)

② Alfonso Tabares, S. (2021) El sueño de la razón produce monstruos. Encaprichados de Goya. Online-Enzyklopädie HA!.                                                                                 https://historia-arte.com/obras/el-sueno-de-la-razon-produce-monstruos (Zugriff: 06.05.2025)
 
③ Kiening, C. und Eichberger, F. (1994) Contemptus Mundi in Vers und Bild am Ende des Mittelalters. S. Hirzel Verlag. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 123. Bd., H. pp. 409-457, 482 http://www.jstor.org/stable/20658778 (Zugriff: 06.05.2025)

④ Deutsches Wörterbuch von Jakob Grimm und Willhelm Grimm. Weltverachtung, f. https://www.dwds.de/wb/dwb/weltverachtung (Zugriff: 06.05.2025)

⑤ Matzner, A. (2019) William Turner: Biografie. ARTinWORDS. 
https://artinwords.de/william-turner-biografie/ (Zugriff: 06.05.2025)

⑥ The National Gallery, London. Rain, Steam, and Speed – The Great Western Railway. Joseph Mallord William Turner.                             
https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/joseph-mallord-william-turner-rain-steam-and-speed-the-great-western-railway (Zugriff: 06.05.2025)

⑦ Matzner, A., (2020) Caspar David Friedrich: Biografie. Lebenslauf und berühmteste Werke des deutschen Romantikers. ARTinWORDS.
https://artinwords.de/caspar-david-friedrich-biografie-lebenslauf/ (Zugriff: 06.05.2025)

⑧ Redaktion ARTinWORDS (2023/24). Hamburger-Kunsthalle: Caspar David Friedrich. Kunst für eine Zeit.   https://artinwords.de/hamburg-hamburger-kunsthalle-caspar-david-friedrich-kunst-fuer-eine-neue-zeit/#google_vignette (Zugriff am 06.05.2025)

⑨ ARTinWORDS. Phillip Otto Runge.                           https://artinwords.de/philipp-otto-runge/ (Zugriff: 06.05.2025)