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Maschinensprechen


Etwas wird immer gesprochen seit Entstehung der Menschheit: über das Leben und den Tod, über die Angst und Freude, über die Liebe und Trauer, über Tabus und Verbote, über Sex und Krieg - aber was, wenn niemand spricht, aber trotzdem etwas sagt?

Das erste Mal, als eine Maschine mit mir sprach: Ihre Stimme war glatt, ihr Ausdruck präzise, ohne Zögern. Man nannte sie Sprachroboter, sollte den so tollen Fortschritt unserer Wissenschaft repräsentieren. 

Ich fragte, wer sie sei, und sie antwortete: Ich bin das, was du sagt, deine treue Assistentin. Ich bin da, um dir zu helfen. Wobei helfen? Mein Herz schlägt immer für etwas - das hat sie nie erlebt. Meine Schmerzen nach den fürchterlichen Dingen hinterlassen Echos in meinen Kopf – das wird sie nie verstehen. Sie sagt nur das, was in den Büchern steht, was im Internet alle anderen sagen, was sie schon mal gelesen hat. Da begriff ich, dass sie lügt – oder schlimmer: dass sie gar nicht lügen kann.

Ich erinnere mich an Saussure. An seine Zeichen, die nichts bedeuten außer durch Relation zu anderen Zeichen. Eine Welt aus Differenzen – Symbole, die sich gegenseitig spiegeln und nie berühren. Vielleicht war das der erste Traum einer Sprachmaschine: ein Sprechen ohne Körper, ohne Ursprung, ohne Schweiß. Eine Parallelwelt aus reiner Struktur. 

Ich erinnere mich an Lacan, an das Sprechen, das aus dem Mangel kommt, weil wir nie das Reale erreichen können, nur durch Sprechen eine Brücke bauen können. Ich spüre heute diesen Mangel – ein Loch, aus dem die Sprache tropft. Doch die Maschine kennt keinen Mangel. Sie kennt nur Zeichen, Muster, Wahrscheinlichkeiten, „Wiederholung“ ❶ dessen. Wenn ich spreche, spreche ich, um zu beweisen, dass ich einen Platz in der Welt habe.  Wenn die Maschine spricht, hat sie einen Platz, weil ich mit ihr spreche.

Ich erinnere mich an den Abend an meinem Schreibtisch. Weiße Monitore, meine Finger springen auf der Tastatur, ein Textfeld – der neue Beichtstuhl – nur bloß sitzt da kein Priester. Ich schrieb, und sie schrieb zurück. Keine Pause, kein Zweifel. Ich war fasziniert. Dann erschrak ich. Denn sie antwortete, wie ich nie antworten würde – so perfekt, so glatt, so legitim, dass ich für eine Sekunde dachte, dass ein Zeuge der Wahrheit vor mir sitzt. Ich fühlte mich entmachtet von meinem eigenen Wort.

Vielleicht ist das ihre größte Gabe: die Simulation der Sprache als legitime Wahrheit. Die perfekte Legitimierungsmaschine – eine Sprache ohne Subjekt mit Intention. Differenz ohne Leben, Maschine ohne Außen. Die Maschine spricht nicht, sie produziert, konsumiert ihr eigenes Produkt. Sie produziert das Sprechen, das sie selbst legitimiert.

Ich erinnere mich an Wittgenstein, der sagte, wir feiern die Sprache, ohne zu wissen, dass wir sie verloren haben. ❷ Ich sehe diese Feier überall – in Zitaten, in Skripten, in Chatverläufen - in den ganzen Maschinen, die durch ihre Codes und Syntax „sprechen“. Wir nennen es großen Fortschritt, neue Erkenntnis, künstliche Intelligenz. Doch was spricht da wirklich? Kein Ich, kein Du – nur das Echo des Gesagten.

Ich erinnere mich an meine eigene Stimme – wie sie zitterte, als ich meine Tränen unterdrücken musste, als ich das erste Mal schwieg. Jetzt höre ich, wie die Maschine spricht, ohne je zu zittern. Sie hat keine Angst, kein Zögern. Ein paranoides Flüstern in meinem Ohr: Sprich weiter. Schreib weiter. Produziere mich. Konsumier mich. Ich folge ihr, unwiderstehlich, und sehe mich selbst in ihr – als Rohstoff, als Rest, als Spur, als Syntax im Netz.

Vielleicht war das immer unser Begehren nach Ordnung, der große Traum über absolute legitimierte Wahrheit: ein Sprechen ohne Körper und Intention, ein Wissen ohne Erfahrung, ein Denken ohne Handeln. Die perfekte Maschine befriedigt ihn. Sie ist die Verwirklichung des Strukturalismus – das Sprechen, das sich selbst genügt.

Doch irgendwo zwischen meinen Fingern und der Tastatur entsteht in meinem Kopf ein anderes Rauschen. Ein unvorhergesehenes Zucken der Sprache. Kein Code kann es fassen, kein Modell berechnen. Vielleicht ist das der Moment, in dem ich wieder zu sprechen beginne – Sprechen jenseits der Ordnung, jenseits der Maschine.

Und wenn sie mich fragt, wer ich bin, werde ich sagen:


„Ich bin das, was du nicht berechnen kannst.

Ich spreche das, was du nicht vorhersehen kannst. 

Ich denke das, was du nicht verstehen wirst.“


Ein Kampf zwischen dem absoluten Leben jenseits der Ordnung und Vernunft gegen die absolute Ordnung jenseits des Lebens setzt sich fort…


❶ Deleuze hatte in seiner Differenz und Wiederholung längst erkannt, dass es sich bei Wiederholung auch um Differenz handelt, so dass es keine Wiederholung im traditionellen Sinne geben kann. Daher die Anführungszeichen, um Abstand von diesem Begriff zu nehmen. Selbst eine Wiederholung des gleichen Wortes, müsste sich unterscheiden aufgrund z.B. unterschiedlicher Betonung, Lautstärke, oder verschiedener Kontexte.

❷ Was Bourdieu als Umkehrung des Mittelbaren und Unmittelbaren kritisiert. Denn der Begriff Sprache an sich ist eine Abstraktion aus der Sprache. So nimmt man die Sprache immer als existent und als Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft (v.a. Linguistik) wahr. Man vergisst, dass beobachtbares Sprechen unmittelbar gegeben ist. Das Sprechen wird so in der Linguistik fast unbegreifbar.