Die Zeit rennt
Wenn man sieben ist, fühlt sich der Weg von der Grundschule nach Hause manchmal an wie eine Weltreise. Zwischendurch werden Regenbogenbrücken imaginiert, um den Weg abzukürzen. Man wartet an Kreuzungen oder neben Feldern, weil hinter jeder Ecke eine Überraschung lauern könnte. Alles hat Potential, ein Abenteuer zu werden. Und die Zeit, die schleicht. Im Verlauf des Lebens entwickelt sich aus dem Schleichen allmählich ein Gehen, dann ein Laufen und schließlich ein Rennen. Warum?
Beim Warten auf den lang geplanten Zahnarzttermin vergehen Minuten wie Stunden. Abends in der Bar bei guten Gesprächen unter Freunden ziehen Stunden wie Minuten vorbei. Zeiträume können also abhängig vom Kontext fliegen oder schleichen. Unsere Wahrnehmung von Zeit ist subjektiv.
Die Ursachen sind, wie so oft, vielfältig. Zum Teil liegt dieses subjektive Empfinden in unserem emotionalen Erleben. Angst beispielsweise streckt die wahrgenommene Zeit, wohingegen Freude sie staucht. ❶ Auch vergeht Zeit für uns schneller, wenn wir beschäftigt sind. Aufmerksamkeit spielt hier also eine große Rolle. ❷ Ebenfalls relevant sind unser Gedächtnis und die Dichte der Erlebnisse, mit der wir es füllen. Je mehr wir erleben, desto länger erscheint uns der vergangene Zeitraum. ❸ Unser Gehirn zählt keine Sekunden, es zählt Ereignisse.
In dieser Funktion unseres Gedächtnisses, Erlebnisse wahrzunehmen und zu speichern, liegt auch die Erklärung der immer kürzer wirkenden Zeit über unser Leben hinweg. Wenn an einem Tag viel Neues passiert, nehmen wir die Zeit prospektiv (in diesem Moment) als schneller vergehend war. Retrospektiv jedoch wirkt der Tag gedehnt, da viele relevante Erlebnisse aufeinander gefolgt sind. An einem Tag, an dem man viel wartet oder in Routinen arbeitet, liegt der Fokus der Wahrnehmung eher auf dem Verstreichen der Zeit selbst – die Zeit scheint langsamer zu vergehen. Im Retrospekt allerdings gibt es kaum Erinnerungswürdiges und der Zeitraum wirkt kurz ❹.
Als Kind ist man Pionier. An nahezu jedem Tag werden neue Ideen, Orte oder Extravaganzen der Gesellschaft entdeckt und erkundet. Diese Fülle an Neuheiten führt zu der subjektiv wahrgenommenen Expansion dieses Altersabschnitts. Je älter wir werden, desto mehr leben wir in Routinen. Die Dichte an bereits bekannten Ereignissen lässt Tage, Wochen, Jahre zu Episoden verschmelzen. Wir verlieren also nicht nur Zeit – wir verlieren die Fähigkeit, sie zu bemerken.
Und was nun? Einige der wenigen Konstanten im Leben eines jeden Menschen ist das unvermeidbare Vergehen der Zeit. Zeit kann nicht gestoppt werden. Wie wir mittlerweile wissen, kann sie aber unterschiedlich wahrgenommen werden. Wenn wir neue Sprachen lernen, neue Musik hören, reisen, erleben wir Zeit intensiver ❺. Achtsamkeit, Neugier und Offenheit aktivieren dieselben Aufmerksamkeitsmechanismen wie in der Kindheit. Statt also das unumgängliche Vergehen zu bedauern, sollten wir Momente sammeln, sie in kleine Marmeladengläser stecken und die Zeit beobachten, wie sie sich streckt und räkelt, wenn wir nur wollen.
❶ Droit-Volet, S., & Meck, W. H. (2007). How emotions colour our perception of time. Trends in Cognitive Sciences, 11(12), 504–513.
❷ Zakay, D., & Block, R. A. (1997). Temporal cognition. Current Directions in Psychological Science, 6(1), 12–16.
❸ Poynter, W. D. (1989). Judging the duration of time intervals: A process of remembering segments of experience.Memory & Cognition, 17(3), 292–298.
❹ El Haj, M., Nandrino, J.-L., Kessels, R. P. C., Matton, C., Bacquet, J.-E., Urso, L., & Antoine, P. (2017). Retrospective Time Perception in Korsakoff’s Syndrome. The Journal of Neuropsychiatry and Clinical Neurosciences, 29(4), 319–325.
❺ Kramer, R. S. S., Weger, U. W., & Sharma, D. (2013). The effect of mindfulness meditation on time perception.Consciousness and Cognition, 22(3), 846–852.