Die Einsamkeit der Unendlichkeit
Zu Zeiten, wo man noch im Flugzeug rauchen durfte und Berlin durch eine Mauer getrennt war, entstand Der Himmel über Berlin von Wim Wenders. Ein Film, der nicht nur durch seine Bilder, sondern auch durch sein lyrisches Narrativ auffällt – geprägt von Peter Handke, der zusammen mit Richard Reitinger das Drehbuch schrieb. Es erzählt von zwei Engeln, Damiel und Cassiel, die in Schwarz und Weiß über die Hauptstadt Deutschlands wachen. Oder besser: sie betrachten. Sie sind da, aber interagieren nicht mit den Menschen, sie lauschen ihren Gedanken und nehmen sie metaphorisch an die Hand.
Schon in der visuellen Gestaltung wird diese Trennung deutlich. Die Welt der Engel erscheint in Schwarz-Weiß – leblos, steril, ohne Wärme. Die Welt der Menschen dagegen bunt, voller Sinneseindrücke, voller Leben. Ich sehe die Farblosigkeit der Engel als eine Metapher für ihre Einsamkeit. Ihnen fehlt das, was uns Menschen selbstverständlich erscheint: die Wärme einer Umarmung, die Härte der Steine oder die Feuchtigkeit von Regen auf der Haut. Und dabei müssen sie akzeptieren, dass nicht allen Menschen das genug ist.
Manche sehnen sich nach Unendlichkeit, die sich in der sterblichen Welt nur im Tod finden lässt. So bleibt mir die Szene im Kopf, in der Cassiel tatenlos dabei zusehen muss, wie ein Mensch zum ersten und letzten Mal in seinem Leben das Fliegen lernen will und sich dabei absichtlich in seine Unendlichkeit stürzt. Einprägsam ist dabei der Moment kurz vor dem Absprung. Cassiel lässt ihn dabei nicht allein. Er sitzt neben ihm, der Kopf angelehnt an seine Schulter, im Hintergrund der Himmel über Berlin. Die letzten Momente des bald Toten werden ruhig beschrieben. Jedoch herrscht Lärm im Kopf des Suizidenten. Es wollen noch einige Beobachtungen festgehalten ,Fragen gestellt und Gedanken gemacht werden.
„Wieso habe ich eigentlich immer die roten Strümpfe zu den schwarzen Schuhen an?“
„Die Jacke ist gut, aber die Tasche reißt.“
„Es ist kalt. Meine Hände waren aber immer warm. Das ist ein gutes Zeichen.“
Und kurz bevor die Flügel für den Abflug ausgebreitet werden :Ich gehe… warum eigentlich?
Damiel sehnt sich nach Farbe; er will sich an heißem Kaffee verbrennen, den Rauch einer Zigarette in seinen Lungen spüren und wissen, wie es sich anfühlt, jemanden leidenschaftlich zu küssen. Denn die Welt der Engel ist unendlich, jedoch nicht interaktiv. Sie sind Beobachter*innen. Zu jeder Stunde dringen die Gedanken der Menschen zu ihnen. Theoretisch wissen sie, wie sich leben anfühlen sollte, kommen aber nie in den Genuss selbst zu spüren.Damiel ist einsam und, wortwörtlich, unsterblich verliebt. In eine Trapezkünstlerin namens Marion. Für sie will er die Vorzüge der Unendlichkeit mit denen der Sterblichkeit eintauschen.
Hier stellt sich die Frage: Ist die Unendlichkeit wirklich ein Geschenk, wie wir es uns vorstellen? Oder eher wie ein Gefängnis ohne Gitter – einem Raum, in dem man alles weiß und nichts fühlt?
An dieser Stelle knüpft Handkes Lied vom Kindsein an:
„Als das Kind, Kind war, war das die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?“
Fragen, die das Kind stellen kann, weil es noch nicht vollständig in der Welt der Erwachsenen angekommen ist. Auch Kinder sind einsam: Sie leben inmitten der anderen, und doch in einem eigenen Reich aus Fragen und Unsicherheit. Im Film sind Kinder die einzigen, die die Engel sehen können. Ihre Offenheit ist eine Brücke zwischen dem Sakralen und dem Profanen, zwischen Ewigkeit und Alltag.
Viele finden sich im Leben in dieser schwarz-weißen Welt wieder. Einsamkeit hat viele Gesichter – sie kann aussehen wie eine leere Wohnung, klingen wie das Warten auf eine unbeantwortete Nachricht, schmecken wie der letzte kalte Schluck Kaffee am Nachmittag. Manchmal fühlt es sich auch so an wie ein Sonntag, an dem man nicht aus dem Bett kommt: draußen kalt, drinnen warm, im Kopf chaotisch. Diese Tage fühlen sich unendlich an. Ebendieses Gefühl vermittelt der Film seinem Publikum.
Ich führte mir diesen Film an einem der besagten Sonntage zu Gemüte, doch er würde sich anders als mein gleichzeitig bestelltes Essen als keine leichte Kost entpuppen. Ich würde auch sagen, dass der Einstieg dazu für mich eine Herausforderung darstellte, da ich leicht von der Schwarz-Weiß-Ästhetik abgeschreckt wurde. Während des Films hatte ich oft das Gefühl, ähnlich wie die Engel, die die Menschen im Film beobachten, immer wieder darin bestätigt zu werden, selbst nur Betrachter*In zu sein. Diese distanzierte Perspektive machte das Geschehen auf der Leinwand faszinierend, aber zugleich auch etwas schwer zugänglich.
Am Ende bleibt der Eindruck, dass Der Himmel über Berlin weniger ein Film über Engel ist, sondern ein Film über uns Menschen – über unsere Sehnsucht nach Nähe und unser gleichzeitiges Gefangensein in der eigenen Einsamkeit. Wenders zeigt, dass Unendlichkeit kein Geschenk ist, wenn sie nicht geteilt werden kann. Erst die Begrenzung, die Sterblichkeit, macht das Leben farbig und intensiv. Vielleicht liegt darin die eigentliche Botschaft: Dass nicht die Dauer, sondern die Begegnung zählt.
CLARA FRANZ
TEXT
ALBA VON VIETINGHOFF BILD
ALBA VON VIETINGHOFF BILD