Creature Comfort
Creature Comfort klingt nach TikTok-Ästhetik: Duftkerzen, Loungewear, Selfcare-Sonntag. Doch der Begriff ist alt. Sehr alt. Schon 1641 tauchte er in Bibelkommentaren auf.
Gemeint war alles, was den Körper beruhigt: Wärme, Nahrung, Schutz und auch Religion. Die Kunst, sich hinter Geschichten zu verstecken und gleichzeitig das Leben verstehen zu wollen.
Ein archaisches Bedürfnis, das bis heute in uns wirkt und die Sehnsucht nach einem Zustand jenseits von Angst und Mangel nährt.
Vielleicht liegt sein Ursprung im Uterus: getragen, umhüllt, ohne Verantwortung, ohne Sprache. Frieden ohne Bewusstsein, Sicherheit ohne Risiko.
Dann die Geburt: Schock, Kälte, Lärm. Von da an suchen wir wohl unbewusst die Rückkehr in diesen verlorenen Zustand der Geborgenheit.
Weil wir dorthin nicht zurückkehren können, schaffen wir uns Surrogate.
Substanzen, Rituale, Ablenkungen. Ayahuasca-Zeremonien werden im Westen wie spirituelle Airbnbs gebucht, jahrtausendealte Praktiken aus dem Kontext gerissen, als Lifestyle verpackt.
Das Heilige wird zum Produkt, Heilung zum Event. Zur Religion.
Creature Comfort ist auch eine Klassenfrage. Komfort ist Status. Betäubung hat ein Preisschild.
Selbst Unbehagen lässt sich verkaufen.
Wer Geld hat, nennt es Selbstoptimierung. Wer nicht, bleibt zurück.
Während die einen Bio Matcha trinken und Atemübungen in ihre Routine integrieren, rauchen andere Crack auf dem Asphalt. Unterschiedliche Wege, um dieselbe Last abzuschütteln: die Schwere des Lebens.
Wir leben in einer Ökonomie der Linderung. Immer gibt es ein neues Produkt, das Befriedigung verspricht, doch nichts hält. Ein Glas Wein, ein Retreat, ein Achtsamkeitskurs: alles wirkt, aber nur kurz. Dann beginnt die Suche von vorn.
In einer Welt, die vibriert vor Lärm, Krisen und Reizüberflutung, ist Creature Comfort mehr als eine warme Decke. Es ist Betäubung, Ersatzreligion, eine Illusion von Halt. Wir scrollen, kaufen, klicken, liken, als ließe sich Sinn wie ein Ladegerät einstöpseln. Sneakers in Sonderedition, Smart Homes, Detox Programme; flüchtige Befriedigungen, die verschwinden, sobald wir sie greifen. Den Zustand, den wir suchen, erreichen wir dabei niemals.
Selbst Momente echter Nähe – ein Abend mit Freunden, eine Umarmung, ein Augenblick von Klarheit – kühlen mit der Zeit ab. Was uns trug, verliert an Temperatur. Die schönsten Reisen, die intensivsten Begegnungen entgleiten dem Jetzt. Sie bleiben als Spur zurück: angenehm, schmerzhaft, sehnsüchtig. Nichts, was uns beruhigt, bleibt.
Zwischen diesen Momenten schaffen wir kleine Ersatzgeborgenheiten: Nähe, gestreamt; Freundschaft, geliked. Geräte sind die neuen Stofftiere: warm, verfügbar, aber ohne Liebe. Sie hören zu, ohne zu hören. Sie liefern, ohne zu verstehen. Der goldene Käfig hat WLAN.
Während wir uns darin einnisten, brennt die Welt weiter. Kriege, Hunger, kollabierende Ökosysteme, bröckelnde Demokratien und rechtsstaatliche Tendenzen. Die Watte in unseren Köpfen dämpft die Dringlichkeit. Luxus wird zur Mittäterschaft. Verantwortung beginnt dort, wo Komfort endet - nicht in besseren Beruhigungen, sondern im Aushalten, im Handeln, im Unbequemen.
Creature Comfort ist letztlich nur eine andere Form von Selbstoptimierung. Sie verspricht Ordnung, Halt, Effizienz und wirkt doch wie ein ständiger Belastungstest, an dem wir uns abarbeiten in der Hoffnung, dass alles besser wird.
Doch wenn fast alles ein „um zu” wird - um schöner zu sein, gesünder, ruhiger, länger zu leben - fehlt das Wesentliche:
das „um zu” für andere. Dort, wo wir einander wirklich begegnen.
Weg vom eigenen Spiegel, hin zur Welt, zu den Menschen um uns herum.
Vielleicht liegt die eigentliche Arbeit am guten Leben nicht darin, sich selbst zu verbessern, sondern den Blick zu heben und zu handeln. Denn das, was wir wirklich brauchen, lässt sich nicht kaufen, nicht liken, nicht streamen.
Nähe, Mut und Verantwortung entstehen nur außerhalb der Komfortzone.
Trost liegt nicht im Rückzug in das Weiche, sondern im Schritt nach vorn in das Unbequeme, in einer Welt, die weder sanft noch sicher ist, liegt Leben.
Und nur wenn wir bereit sind, es miteinander auszuhalten, wird es lebendig.
ALBA VON VIETINGHOFF TEXT
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