Ein Morgenrot in den Himalayas
Um dreiviertel sechs in der Früh überzieht eine hübsche hellblaue Farbe den Himmel Kathmandus, der durchwimmelten, bunten Hauptstadt Nepals. Bald schon schmücken ein paar dichte Wolken das weite Blau, und die grünen Reisfelder am Stadtrand tanzen träge, fast andächtig, im Takt des lauen Septemberwinds. Der sachte Klang erster Schritte auf der Straße und das unerbittliche Krähen junger Hähne schallen durch die Luft, während immer mehr Leben aus den bunten Häusern auf die schmalen, winkligen Straßen fließt. Der Horizont ist mit mächtigen, sanft verlaufenden Bergen bedeckt, und es wirkt fast so, als würden sie weise über das gewohnte Morgenschauspiel wachen. Im Moment scheint es fast unmöglich, dass ein Tag mit einem so friedvollen Anfang mit einer so entsetzlichen Headline sein Ende nehmen sollte: “19 Dead in Gen-Z Protests across Nepal”.
Nepal ist ein sehr nettes Land mit noch netteren Leuten, das ein wenig einsam zwischen Indien und China liegt. Die freundlichen Leute Nepals werden aber seit Jahrzehnten von politischer Instabilität heimgesucht: In den Neunzigern begann - nach ersten Experimenten mit der Demokratie vierzig Jahre davor - ein relativ erfolgreicher Anlauf auf eine parlamentarische Monarchie; 2001 erschoss dann der Kronprinz große Teile der Königsfamilie und sich selbst unter mythenumwobenen Umständen, woraufhin sein Onkel der Nächste in der Thronfolge war. Dieser herrschte in den nächsten Jahren zuerst neben dem Parlament und später alleine über Nepal. Einst wieder lungerten Tyrannei, Zensur und Abgeschiedenheit zwischen den höchsten Bergen der Welt. 2006 gewann dann eine Protestwelle, die auf einen Zivilkrieg folgte, ihren Willen, und die Monarchie wurde zwei Jahre später abgeschafft: Erneut entscheidet ein Parlament über die Zukunft des Landes, diesmal erstmals mit einem Präsidenten an der Seite. Zum ersten Mal seit Langem füllte der Geruch von Hoffnung die Nasen der Nepalesen.
In der neu gewonnenen Republik folgte aber eher eine frische Art der Instabilität, denn seitdem gab es 13 (!) Regierungen, bestehend aus nur drei Parteien, die sich quasi abwechseln. Die Proteste, unter denen der Alltag Kathmandus am achten September so klirrend zerbrochen ist, waren eine Reaktion auf das neue Social-Media Verbot der damaligen Regierung, das in der vorigen Nacht in Kraft getreten war, aber keineswegs nur darauf: Die Protestbewegung, die sich selbst mit der Gen-Z identifiziert und größtenteils aus Schüler*innen und Student*innen besteht, hat es sich nämlich zum Ziel gesetzt, ihr Land von der Korruption zu befreien, die momentan viele Fasern der Politik und öffentlichen Verwaltung durchzieht. Das können andere aber deutlich besser erklären als ich, und deswegen treffe ich mich mit Aryan, einem jungen Nepalesen, der an den Protesten teilgenommen hat, auf ein Interview. ❶
Am Tag des Interviews, einem sonnigen Mittwoch, nehm ich mir frei und bestell mir am späten Vormittag ein Mopedtaxi in die Stadt - Busfahren ist hier eine äußerst aufwändige Unternehmung. Bald bin ich da, und Aryan kommt mir winkend entgegen. Wir lachen kurz darüber, dass ich noch Haare hatte und seine noch nicht blond waren, als wir uns das letzte Mal vor circa zwei Wochen gesehen haben. Während wir die letzten paar Meter zu Aryans Haustür hinter uns bringen, versichern wir uns noch kurz gegenseitig, dass unsere neuen Frisuren eh super ausschauen.
Einmal angekommen biegen wir gleich in Aryans Zimmer ein, ich nehm auf einer überraschend bequemen, kleinen Couch Platz, Aryan gegenüber auf seinem schwarzen Schreibtischsessel. Ich nehm mir eine Sekunde, um meine Notizen zu studieren, begutachte meinen Gesprächspartner danach noch kurz: Ziemlich groß, seit neuestem blonde Haare, silberner Ohrring auf einer Seite, ein Arm dicht tätowiert - Anime-Referenzen gesellen sich da unterm Ellbogen zur chemischen Zusammensetzung von Nikotin.
Unser Gespräch beginnt dann ganz klassisch damit, dass wir uns gegenseitig unsere Nervosität bekunden - schließlich ist das für uns beide unser erstes Interview! Zuallererst will ich wissen, wie er auf der Demo gelandet ist, und er lächelt, weil eigentlich sei er selber gar nicht so politisch. “Ich war mit ein paar Freunden zuhause, und wir haben einfach auf TikTok gescrollt. Wir wussten, dass heute ein großer Protest vor dem Parlament stattfindet, aber irgendwie hat’s für mich angenehmer gewirkt, zuhause zu bleiben und zu schlafen, als die gleichen Sachen zu brüllen, die schon seit Jahren gebrüllt werden”, lacht er. Später aber haben sie von den ersten Ausschreitungen gehört, da sei einer seiner Freunde aufgesprungen und habe den Rest überredet, hinzugehen. “Da wussten wir, dass es dieses Mal anders wird.“
Aryan erzählt weiter, was er auf den Protesten am Anfang so gesehen hat: Regierungsgebäude stürmende Menschenmassen, durch die Luft fliegende Gummigeschosse, über Zäune hüpfende Demonstrant*innen. “Am Anfang war’s für uns noch irgendwie lustig, wenn man das so sagen kann. Dann haben wir aber gehört, dass ein Schulkind, das nicht mal an der Demo teilgenommen hat, getötet wurde. Unsere Regierung hat mit scharfer Munition auf die Zukunft unseres Landes geschossen.“
Am nächsten Tag wurde dann Regierungsgebäude nach Regierungsgebäude angezündet, am anderen Ende der Stadt noch hat man gesehen, wie dichte Rauchschwaden den Himmel über Kathmandu grau färbten. “Im Moment hat’s irgendwie ganz normal gewirkt, die brennenden Regierungsgebäude zu sehen. Vielleicht, weil es sich gerade so notwendig angefühlt hat”, erinnert sich Aryan ganz nüchtern.
Was an den Protesten besonders war, ist, dass Nepalesen eben wirklich sehr umsichtige Menschen sind. Als ich das Thema aufbringe, lächelt Aryan ein bisschen, scheinbar halb, weil die Vorstellung lustig ist, und halb, weil er doch irgendwie stolz auf die Freundlichkeit seiner Mitmenschen ist. “Ich erinner mich noch ganz klar dran, wie einmal ein Touristenbus durch die Menschenmenge gefahren ist. Die Leute haben dann kurz aufgehört, zu protestieren, und den Leuten im Bus gewunken.”
Ein bisschen später am zweiten Tag ist die Lage dann aber eskaliert: “Als wir die ersten Schüsse gehört haben, sind wir sofort heimgegangen. Wir haben eine Tränengasbüchse an uns vorbeifliegen sehen, gestresst um uns herum geschaut, wo sie gelandet ist. Erst, als wir das Zischen gehört haben, haben wir sie am Boden neben uns liegen gesehen. Da sind wir dann so schnell gerannt, wie wir konnten. Ohne was zu sehen!” Nach der Schilderung bin ich sichtlich schockiert, weil ich mir das irgendwie ganz schwer vorstellen kann, und frag, was einem in dem Moment so durch den Kopf geht. Aryan überlegt kurz, lacht: “Fuck, ich brauch Wasser!”
Danach wird die Stimmung schnell wieder ernster, ich will wissen, woher der Frust kommt, der so viele Leute mobilisiert hat. Aryan erklärt, dass das Social-Mediaverbot nur der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. “Angefangen hat das Ganze eigentlich mit einem TikTok-Trend, bei dem Politikerkinder dafür gebashed wurden, dass sie von unseren Steuergeldern anscheinend mehr profitieren, als wir. Die posten stolz Weihnachtsbäume, die von Louis-Vuitton- und Gucci-Paketen umzingelt sind, während die Straßen vor unseren Haustüren immer noch von Schlaglöchern übersäht sind!” Vor den Protesten wurden dann TikTok, Instagram, WhatsApp und ein paar andere Apps verboten, und obwohl offiziell Steuergründe der Auslöser dafür waren, glauben das nur wenige. Was viele junge Nepalesen frustriert, ist, dass internationale Medien am Anfang berichtet haben, die Proteste würden sich nur gegen das Social-Media-Verbot richten. “Es geht um so viel mehr!”, regt sich Aryan kurz auf, und wir lachen über die Vorstellung von europäischen Großeltern, die glauben, Jugendliche in Nepal seien so handysüchtig, dass sie dafür eine Revolution anzetteln würden.
Der Frust, den Aryan beschreibt, hat dann wirklich eine ganze Generation auf die Straße gebracht: Die Proteste wurden von jungen Menschen auf die Beine gestellt und organisiert, es gab sogar ein Alterslimit von 35 (das aber nur sporadisch eingehalten wurde) und die jetzige Interims-Premierministerin wurde unter anderem in einer Abstimmung auf Discord ausgewählt. “An den Protesten haben ganz viele Leute teilgenommen, die eigentlich gar nicht politisch sind, also ihre Komfortzone ganz weit verlassen mussten. Uns wurde jetzt einfach wirklich klar, dass das so nicht weitergehen kann - ältere Menschen demonstrieren seit Jahren, und nichts hat sich verändert. Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem wir Sachen selber in die Hand nehmen mussten.”
Aryan erklärt mir, wie sich das politische System, in dem er aufgewachsen ist, für ihn anfühlt, so: “Stell dir vor, du bist in einem kleinen Raum, die Wände aus festem Stahl, keine Fenster, kein Mikrophon. In einer Wand ist ein Bildschirm, und da läuft ein Video aller politischen Geschehnisse in Nepal. Man fühlt sich wie in einem Käfig - so, als könnten wir nur zuschauen und nichts ändern.” Was sich daran jetzt geändert hat, frage ich. “Der Raum hat jetzt eine Tür mit einem Schloss, aber den Schlüssel müssen wir noch finden.”
Das fasst die momentane Lage ganz gut zusammen: Zwar wurde das Verbot gekippt und die alte Regierung ist zurückgetreten, aber wie langfristig die Veränderung sein wird, werden wohl erst die Neuwahlen im März entscheiden. “Noch haben wir in Wahrheit nichts erreicht. Wir haben viel Hoffnung, und es bewegt sich viel, aber wirklich verändert hat sich noch nichts.” Ich frage, ob Aryan jemals so viel Hoffnung für sein Land gespürt hat, und schneller als sonst antwortet er: “Noch nie.” Dabei schießt ein zartes Leuchten in seine Augen, ganz so, als hätte er diese Realisation selber gerade erst gemacht.
Danach frag ich Aryan zum mittlerweile dritten Mal - die letzten beiden Male sind mir danach dann doch noch Fragen eingefallen - ob’s noch irgendwas gibt, was er sagen mag. Er überlegt ein paar Sekunden, lacht und sagt: “Kannst du am Ende vom Artikel vielleicht ‘Visit Nepal’ schreiben? Das fänd ich sehr cool!” Ich erkläre, zu seiner Enttäuschung, dass ich das Stammcafé wohl schwer für Tourismuswerbung missbrauchen kann, und wir kommen zum Schluss, dass es wahrscheinlich sowieso ein paar bessere Argumente für eine Reise gibt als unser Gespräch.
Zu guter Letzt will ich noch wissen, was die Welt von den Protesten in Nepal lernen kann, und Aryan überlegt ziemlich lange. “Wahrscheinlich, dass man alles erreichen kann, wenn man gemeinsam darum kämpft.” Ich sag danke, das finde ich einen schönen Schluss.
Ungefähr eine Woche nach den Protesten, die Ausgangssperre ist mittlerweile aufgehoben, gehe ich von meiner Abendschicht heim, den wohlbekannten fünfminütigen Spaziergang, diesmal im Dunkeln. Während mein Blick unfokussiert durch die Gegend huscht, fängt ein lichtes Feuerflackern aus einer Busstation vom Straßenrand gegenüber - drei aneinander gestellte Bänke, karg überdacht - meine Aufmerksamkeit. Zuerst bin ich verwirrt, geh dann aber weiter und erziel einen genaueren Blick: Ungefähr zehn junge Männer sitzen da in einem Halbkreis, vor ihnen am Boden eine eigenartige Form von kleinen Kerzen umrahmt. Die Männer schauen ruhig, andächtig, kaum ein Wort sagend, den kleinen Flammen beim Brennen zu. Und in der Mitte von all dem liegt stolz die rot-blaue Flagge Nepals, die im Kerzenschein golden glitzert.
❶ Das Interview ist frei aus dem Englischen übersetzt.
SIMON GARTNER TEXT + BILD