Metamorphose
„As wave is driven by wave
And each, pursues the wave ahead,
So time flies on and follow, flies, and follows,
Always, for ever and new. What was before
Is left behind; what never was is now;
And every passing moment is renewed.“
Ovid, Metamorphoses
Die Entwicklung vom Mädchen zur Frau: die erste große Metamorphose, die ich mit all meinen Sinnen wahrnehmen und bewusst beeinflussen konnte. Dabei wirbelten mich tausende Fragen um die eigene Achse. Was kommt aus meinem Innen, was kommt durch mein Außen, wer möchte ich werden, wie stellte ich mir mein älteres Ich vor, als junges Mädchen, welche Erwartungen hatten wir dabei an uns selbst? Und welche werden von außen an uns gestellt, in welche Bilder und Rollen versuchen wir uns zu transformieren, weil wir denken, dass dies das richtige Ergebnis wäre, als gäbe es nur eine mögliche Variation des Schmetterlings, zu dem die Raupe werden kann. Ich bin auf der ständigen Suche nach der authentischen Metamorphose in mir selbst, nach der, die meinem Wesen zugrunde liegt, ohne den Einfluss der anderen, der Gesellschaft, der Zeit, des Zeitgeistes. Nach dem Geist ohne Zeit. Nach dem Wesen ohne Form. Nach der Textur, die sich nicht angreifen lässt. Nach all dem, was sich nur erahnen lässt, was mitschwingt und für so wenige sichtbar ist, sich in flüchtigen Momenten sichtbar machen lässt. Nach dem Dasein zwischen den Zeilen. Solche Momente sind für mich meistens das Tanzen. Im Tanz bin ich ständig mit dem Prinzip der Metamorphose konfrontiert. Oftmals findet sie nur in einem imaginativen Raum statt, der nur spürbar und nicht sichtbar ist. Und dennoch ist sie entscheidend für die transformative Kraft des Ausdrucks und der Kunst des Tanzes. Ich bin auf der Suche nach der Kreatur in mir selbst. Die Kreatur hat keine bestimmte Form, ist kein bestimmtes Wesen. Sie ist eher eine Ansammlung an bisher ungelebten Träumen, Wünschen, Sehnsüchten, Begierden, Trieben. Die Kraft, die mich ins Unbekannte zieht, in alle Räume von mir selbst, die ich bisher nicht betreten habe. Der zeitgenössische Tanz sucht das Unabgeschlossene, wie die Metamorphose, die kein zwingendes Ende hat, sondern dadurch lebt, dass sie ständig in motion ist. Der Körper ist im Tanz ein unabgeschlossenes, bearbeitbares Material, dessen Grenze weder die Haut noch die Kinesphäre ist. Der Tanz befindet sich ständig im Momentum der Metamorphose, in Bewegung, in der Entwicklung, in der Transformation. Im Suchen nach Ergänzungen und Erweiterungen, im Anreißen von Ahnungen. Ebenso wie die tanzende Person sich bewegt, den Raum bewegt, die Bewegung bewegt, die ganzen Schichten des fleischlichen Körpers und des geistigen Bewusstseins. Ein Körper hat eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine potentielle Zukunft. Er trägt und beheimatet Erfahrungen, Narben, Wissen. Er ist das Archiv unseres ganzen Lebens. Im Tanz wird dieses Körperwissen in Bewegung gebracht, aufgebrochen, erneuert. In dieser Eigenbewegung suche ich die Metamorphose, die Vermenschlichung einer abstrakten Ahnung. Der zeitgenössische Tanz sucht das Groteske, und er lässt mich die Kreatur finden, die wir alle unter unserer Haut beheimaten.
Es fängt ganz klein an, unmerklich. Für die anderen, das Außen, kaum sichtbar. Aber es ist da, wächst in einem, windet sich um die Knochen, Organe, die Seele, vermischt sich mit dem Blut, kriecht unter die Haut, sprießt nach außen, spricht aus unseren Augen, tönt aus unseren Mündern, bleibt an unseren Zähnen haften, klebrig. Es verändert sich stetig. Ich bin ein Strom, wir zusammen sind ein Ozean, immer in Bewegung, nie steht unser Außen still, nie steht unser Innen still. Es will einen Weg nach draußen finden, es will die Metamorphose. Was auch immer „es“ ist. Ein Gedanke, eine Idee, ein Sehen, ein Suchen, ein Erwachen, auch ein Absterben.
Es ist ein Teil von dem, was man gegenwärtig ist und dem Potenzial dessen, was noch sein kann. In meiner Kunst, in der Bewegung kann ich alles sein, was ich will, eine nie endende Metamorphose.
Wenn du es nicht rauslässt, es nicht auslebst, verfolgt es dich in deinen Träumen, in den Augenwinkeln des Gegenübers, in den Schatten, die die Dämmerung wirft. Die Metamorphose wird nicht immer gefallen, genauso wenig wie ihr Ergebnis, wenn es denn eines gibt, denn ich zumindest sehe sie als etwas Unendliches im Kreislauf des Seins, das mit der Geburt beginnt und erst mit dem Tod wieder endet. Sie wird nicht immer angenehm sein, mal grotesk, mal irritierend, sich unbequem äußern, einen das eigene Spiegelbild verkennen lassen, am Existenzialismus rütteln, die Konturen des Rahmens, in dem wir dachten, alles zu wissen und alles kontrollieren zu können, verzerren. Provozierend Unausgesprochenes enthüllen, fordernd an den Rändern unserer Selbstwahrnehmung knabbern, sich Raum schaffen, sie will Raum, Raum, Raum!
Kreatur, die Metamorphose macht uns zu Kreaturen. Und auf einmal erkennst du mich nicht mehr, erkennst dich nicht mehr. Ein Kokon, und dann… ein Schmetterling. Und Menschen, die aus ihren Schneckenhäusern kriechen. Wir, wie wir wieder zu Tieren werden, uns gegenseitig zerfleischen, die Haut zerkratzen, das Blut auflecken.
Du kannst alles und das Gegenteil von allem sein. Du kannst aus deiner Haut schlüpfen und wieder hinein, wie es dir beliebt. Du kannst mich zur Kreatur machen. Kein Wunder, dass wir uns gegenseitig lieben sowie zerstören können. Wir wissen alle, wie La Folie schmeckt, der Wahnsinn. Und wie die Schatten länger werden am Abend, beginnt auch wieder unsere Metamorphose, Folie à deux.
Der unaufhaltsamen Bewegung des Lebens, der Veränderung, liegt die Schönheit aller Lebewesen zugrunde. Sich in diesen fließenden Strom fallen zu lassen, mitten in der Metamorphose zu sein, anstatt sie nur von außen zu betrachten, durch sie zu erfahren, zu wachsen, verleiht uns die Flügel, von denen wir vergessen haben, dass wir sie besitzen. Denn was gibt es schlimmeres als Stillstand?
ZOÉ WAGNER TEXT
DORO ADAM BILD
DORO ADAM BILD