Bonjour Tristesse
EINE ODE AN DAS TRAUERN
Je länger ich über die eigentliche Bedeutung des Wortes Trauer nachgedacht habe, desto mehr ist mir aufgefallen, wie viel ich trauere, für mich und für andere, individuell und kollektiv. Und wie vielschichtig Trauer in ihren Äußerungen sein kann. Wir haben meist eine konkrete Vorstellung von Trauer und ihrer Erscheinungsform. Tränenüberströmt und verzweifelt, auf der Beerdigung eines geliebten Menschen, tagelanges in der Wohnung verkriechen, am Bett liegen, unfähig irgendetwas anderes zu denken oder zu tun, vollkommen beherrscht von diesem Gefühl, das immer ein raumeinnehmender Zustand zu sein scheint, in dem wir einer Emotion ausgeliefert wirken, die wir nicht steuern können, über die wir keine Autorität besitzen. Ich habe bemerkt, wie anders Trauer auch sein kann, wo sie überall ist, wo wir sie zunächst gar nicht vermuten. Oft unerkannt als Gefühl, das wir nicht einordnen können, als ein luftleerer Raum, in dem wir uns verlieren, als ein Gefühl der Ohnmacht, weil wir diese subtile Trauer nicht benennen können und sie deshalb auch nicht ausleben können. Trauer ist nicht immer laut, sie ist auch das stille Liegen und in den Himmel schauen, auf der Suche nach Antworten. Sie ist das Mitgefühl bei der Erzählung einer Freundin und die darauffolgende Wut auf einen weiteren Mann, der ein „Nein“ nicht akzeptieren wollte. Die Trauer ist nicht nur traurig, sie ist auch wütend und befreiend, zerstörerisch und heilend, sie kann alles Mögliche sein. Ganz zart, etwas Privates, das ruhige über Dinge nachdenken in der Zurückgezogenheit der eigenen vier Wände. Oder laut, öffentlich, politisch: Eine Menge protestierender Menschen, die bei einer Demonstration zusammenkommen, um den Verlust oder die Absenz einer Gerechtigkeit zu betrauern und diese einzufordern. Sie schöpfen Energie aus der Trauer, um für ein besseres Morgen zu kämpfen.
Oft empfinde ich eine starke kollektive Trauer für all die Frauen, die mir ihre Geschichten anvertrauen, in denen sie Opfer einer Welt unter patriarchaler Macht geworden sind. Diese Tatsachen machen mich traurig, aber auch wütend, und meistens sind das für mich keine separaten Gefühle mehr. All diese Emotionen vereinen sich in einem Zustand des Trauerns, der befreiend wirkt und wichtig ist, um mit dieser Realität umzugehen und sich ihr zu stellen.
Gemeinschaftliches Trauern kann eine schöne Art des Füreinander-Daseins darstellen. Gemeinsam trauern wir um jede Berührung, die nicht gewollt war, um jeden anzüglichen Blick, der es einem kalt über den Rücken rieseln lässt, über jedes Angst haben auf dem nächtlichen Heimweg, um jedes verletzt werden, sobald man dachte, diesmal wäre es anders. Um das ausgenutzt und objektiviert werden. Um all die körperlichen und emotionalen Wunden der Vergangenheit, die die Gegenwart fast jeder Frau prägen und die ein Teil von uns sind. Ich trauere auch um die Männer, denen gesagt wurde, sie sollen keine Emotionen zeigen, keine Träne vergießen, sich „männlich“ verhalten. Auch sie sind Opfer des Patriarchats, das ihnen das Recht zu Trauern als allerersten nahm. Trauern ist Fühlen. In einer oft ohnmächtigen Welt ist es so wichtig, dass wir das Fühlen zulassen. Und uns das kostbarste Gut im Neoliberalismus geben: Zeit. Zeit, zu trauern, Zeit zu fühlen. Denn Zeit zu Trauern ist Zeit zu verarbeiten, mit Umständen umzugehen, anstatt vor ihnen wegzulaufen, mit Dingen abzuschließen und zu heilen.
Dabei kommt mir der Gedanke, dass es aktuell einen starken Kontrast gibt zwischen einer Verdrängungskultur, die Trauma, negative Erfahrungen und auch das Trauern um Verlust und Enttäuschung in den hintersten Winkel unseres Seins schiebt, und einem hyperawareness Trend. Unter dem Titel „Achtsamkeit“, welche sich beim zweiten Blick meist als kapitalistische Marketingströmung entpuppt, preist Social Media und Co bestimmte Kurse, Therapien, Retreats, Produkte und Self- Care Equipment an, durch deren Konsum wir uns endlich Zeit nehmen würden achtsam zu uns selbst zu sein und auf unser seelisches Wohlergehen zu achten. Diese oberflächliche self-care Strömung hat wenig mit der Auseinandersetzung der eigenen Gefühle zu tun und mehr mit kapitalistischen Strukturen. Doch was ist mit echter Achtsamkeit, dem Inneren, dem Raum jenseits dieser Oberflächlichkeiten? Die wahre Achtsamkeit ist nicht käuflich, sie entspringt aus uns selbst und wir müssen sie aus eigener Kraft aktivieren und nicht von äußeren Faktoren abhängig machen. Die Achtsamkeit muss etwas sein, das wir uns selbst wert sind, die wir uns selbst zugestehen möchten und eine Art, seinem Körper und seiner Seele Respekt entgegenzubringen. Weil wir all das anerkennen und schätzen, was er mit uns durchmacht. Wenn wir unseren Körper und unsere Seele, die er beheimatet, als unseren Tempel wahrnehmen, passen wir auf, womit wir ihn füttern, wie wir ihn behandeln und wie wir ihn von anderen behandeln lassen. In einer idealen Welt würde jede und jeder sich selbst diese Achtsamkeit abverlangen und sie gleichermaßen anderen entgegenbringen. Doch das ist keine ideale Welt, darum müssen wir um die Achtsamkeit kämpfen, um die Zeit für sie, um Zeit, achtsam zu trauern. Und um die Zärtlichkeit uns selbst und anderen gegenüber. Ich trauere um den Verlust der Zärtlichkeit in unserer Gesellschaft. Und den des Hinsehens und Zuhörens. Um den Verlust des Mitgefühls.
Ich trauere um Teile meiner selbst, die ich irgendwo auf dem Weg hierher zurücklassen musste, auch wenn es die richtige Entscheidung war, sich von ihnen gelöst zu haben. Ich trauere um Menschen, die ich einmal zu meiner Realität zählte, deren Existenz mit meiner, einen gemeinsamen Raum der Gemeinschaft und Zwischenmenschlichkeit fand, und die nun wieder in ihrer eigenen Realität leben, ohne mich und ich ohne sie. Selbst wenn es manchmal gut ist, sich von bestimmten Menschen zu lösen, waren sie alle eine Zeit Teil der eigenen Realität, und somit für immer Teil der persönlichen Erinnerung und Vergangenheit. Ich trauere um alle unerfüllten Träume meiner Mutter, meiner Großmutter, die sie in jedem Gespräch über die Vergangenheit unmerklich in mich hineinlegen. Ich trauere um die Dinge, die Traumata, die seit Generationen weitergegeben werden, über die aber niemand wagt zu sprechen und die somit auch nicht aufgebrochen werden können.
Die Oberflächlichkeit dieser Gesellschaft überschminkt die Trauer wie billiger Concealer. Gleichgültigkeit zerstört die letzte Menschlichkeit in einem entfremdeten System. Aber die Trauer sollte keine Grenzen haben. Die Trauer sollte frei sein. Auch wenn es keine absolute Freiheit gibt, müssen wir es uns zur Lebensaufgabe machen, sie trotzdem zu jagen, in allen Dingen zu suchen und in manchen zu finden. In unserem Sein, in der Gemeinschaft mit anderen, im Ausleben unserer Emotionen. In der Zeit, die wir uns nehmen, zum Tanzen und Lachen, zum Lernen und Wachsen, und zum Weinen und Trauern.
ZOÉ WAGNER TEXT
LEA JEITLER BILD
LEA JEITLER BILD