Sollte man sich fürs Müsli essen schämen?
Ich bin 13, auf der Geburtstagsparty einer Freundin. Ein paar andere Mädchen und ich sind gleich nach dem Unterricht von einer Mutti oder einem Vati abgeholt und dahin gefahren worden und ziehen uns in den Toiletten des riesigen privaten Parks, den die Eltern für die Feier gemietet haben, um. Es geht mir jetzt aber nicht um das Luxusleben, das sich ein Prozent der argentinischen Bevölkerung leisten kann, sondern darum, dass es Sommer ist und ich mit langer Hose und einem langärmligen Oberteil rumlaufen musste, als wären keine 26 Grad draußen, sondern 15. Alle anderen Mädchen tragen Shorts und kurze sommerliche Kleider, trotzdem traue ich mich nicht, meine schlanken, aber leider haarigen Beine zu zeigen.
Meine Eltern waren von Anfang an dagegen – meine Mutter hat, solange ich auf dieser Welt bin, ihre Körperbehaarung nie rasiert oder irgendwie anders beseitigt, mein Vater auch nicht. Zuhause war das nie ein Thema – zumindest nicht, bis ich in die Pubertät kam und mir auffiel, dass ja eigentlich jede Frau in Argentinien sich auf jeden Fall die Bein- und Achselhaare rasiert oder waxen lässt. Sogar die Laserentfernung ist bei jungen Mädchen sehr beliebt. Meine Freundinnen erzählen mir jetzt, nach 7 Jahren, dass sie keine Wahl hatten, beziehungsweise, sich ja trotzdem dafür entschieden hätten, sich nach den ersten paar Härchen an der Hand ihrer Mütter zum Lasertermin führen zu lassen, um dadurch vollkommen in das Leben einer argentinischen Frau eingeführt werden. Es war keine ,,ob”-Frage – es war eine ,,wann”-Frage. Und die Antwort darauf war selbstverständlich – sobald die dunklere Körperbehaarung erschien, musste sie weg. Ich habe eine Freundin, die von Kind an zweimal die Woche zum Schwimmen ging. Das bedeutete – die regelmäßigen Termine im Waxing Salon fingen für sie in ihrem 13. Lebensjahr an.
Und dann gab's mich – meine Eltern erlaubten mir nicht, meine Beine zu rasieren. Natürlich nicht, weil sie mir Schlechtes wünschten, sondern weil sie befürchteten, dass es kein ,,zurück” geben würde. Und sie haben Recht – wenn man sich einmal an die Gesellschaft anpasst, wird es schwierig, freiwillig die Privilegien, die ,,Community” der Mehrheit zu verlassen. Heute rasiere ich mir immer noch die Beine und egal, wie wenig streng oder ernst ich es nehme, egal, was ich mir versuche einzureden, ich tue es nicht meinetwegen, sondern wegen der gesellschaftlichen Vorteile.
Das gleiche passierte mir, als mir meine Eltern keinen BH, oder wenigstens ein Bustier, schenken wollten, obwohl ich es mit 13 ,,gebraucht hätte”. Oder als ich keine Leggins hatte, um zur Sportgymnastik zu gehen und mit meiner breiten Jogginghose in der Mädchenmenge auffiel. Denn das ist in Argentinien auch ein Muss – enganliegende Kleidung für Mädchen und Frauen, unter dem Risiko, überall sexualisiert zu werden. Eigentlich kein Risiko – denn das hätte bedeutet, dass es eine Chance gäbe, so klein sie auch sei, dass das nicht passiert. Doch in Argentinien ist es keine Frage, ob die normalisierte gesellschaftliche Übersexualisierung von Frauen, unabhängig vom Alter, nicht geschehe. Aber das habe ich mit 13 nicht verstanden, beziehungsweise wollte es gar nicht einsehen, trotz der Gespräche mit meinen Eltern. Und so kam es dazu, dass meine Eltern zum Sündenbock wurden – an allem, was mich vom Rest der super-integrierten Mädchen ausschloss, waren meine Eltern schuld. Und das habe ich allen als Antwort gegeben - ,,Ich weiß nicht warum, meine Eltern wollen nicht", ,,Meine Eltern sind dagegen, keine Ahnung wieso, sie sind voll komisch”, und so ähnlich. Denn das ,,Opfer" seiner Eltern zu sein ist sozial besser angesehen, als selbst was dagegen zu haben – du kannst ja, als ,,Opfer”, nichts dafür.
Die Überzeugungen meiner Eltern wirkten und wurden sichtbar; auch außerhalb des rein privaten Bereichs. Zum Beispiel, wenn ich auf Schulfeiern entweder ganz alleine herumstand, mit meinen Schwestern zusammen, oder in der Gruppe mit meinen Freundinnen oder deren Eltern war, aber nie mit meinen Eltern, da sie es nicht als wichtig empfunden haben. Und das Schlimme war – ich fand die Feiern auch gar nicht so wichtig oder besonders. Es war mir einfach nur peinlich, dass meine Eltern sich nicht sehen ließen, wie alle anderen. Ähnlich bei Geburtstagen – ich hatte immer kleinere Feiern, mit meinen Freundinnen, und obwohl wir trotzdem über zehn Mädchen waren, wünschte ich mir immer große Partys, zu denen alle Klassenkamerad*innen eingeladen werden, obwohl man mit der Hälfte gar nicht befreundet war – genau wie die Feiern von den anderen in meiner Klasse. Ich muss aber sagen, dass ich zweimal große Geburtstagspartys hatte, die mir auch sehr viel Spaß gemacht haben. Das, um zu zeigen, dass meine Eltern nicht ausschließlich gegen mich oder meine Schwestern waren, sondern gegen die Konstrukte der lateinamerikanischen Gesellschaft.
Eine Gesellschaft, die Scham verbreitet, ist keine freie Gesellschaft. Die Scham wirkt kontrollierend, entfremdend, ausschließend. Es gibt und wird immer Menschen geben, die nicht dazugehören oder die es auch gar nicht wollen, und die bleiben dann von einer ,,Community” ausgeschlossen, die keine Ausnahmen zum Eintritt erlaubt. Die Politik nutzt soziale Konstrukte, um das Gefühl der Scham und Nicht-Zugehörigkeit zu verbreiten, was sich als unglaublich tiefgreifend und mächtig entpuppt hat. Anscheinend ist uns das Dazugehören manchmal wichtiger als unsere moralische Verpflichtung, lieb und respektvoll zueinander zu sein. Das sehen wir nicht nur in der Damenrasierer-Werbung in den ‘90ern, sondern auch in der ausländerfeindlichen, marginalisierenden, rassistischen Politik der wichtigsten ,,Führer” (ich gendere absichtlich nicht) unserer Welt. Bei den Leuten, die finanzielle Probleme haben. Wie kann man sich dafür schämen, wenn das Problem im gesamten Wirtschaftssystem liegt? Die Scham hat eine ungerechte Macht erreicht, die viel zu folgenreich ist.
Ich könnte ja plötzlich behaupten, Müsli essen wäre peinlich. Ich könnte mir Theorien, Gründe ausdenken – dass das Hinführen des Löffels in den Mund zu sexuell sei oder dass Müsli ungesund sei, und dann Fakten falsch darstellen, von wegen alle, die Müsli essen, wären übergewichtig und würden sich ungesund ernähren. Und garantiert würden dann Leute anspringen und meinen, dass das ja Sinn ergeben würde und dass man sich dafür schämen sollte, Müsli zum Frühstück zu essen. Obwohl das ja kompletter Unsinn ist.
Es kann nicht sein, dass wir uns immer noch schämen. Dass wir uns immer noch so stark von anderen Leuten beeinflussen lassen, egal wie sozial wir als Lebewesen sind. Dass wir uns Sachen nicht erlauben, weil andere sie komisch finden könnten, oder etwas nur deshalb machen, weil wir der Menschenmenge folgen wollen.
Die Scham hat jedoch einen einzigen positiven Strahl. Eine Nebenwirkung, wenn man so sagen darf, die eine besondere Intimität und Nähe erlaubt. Es gibt ja Menschen, bei denen man kein Schamgefühl verspürt, die einen so sicher und gemütlich annehmen, dass kein Platz für die Scham bleibt. Und diese sogenannte Ausnahme ist, an sich, die Reaktion auf die Aktion – die Verbreitung des Schamgefühls. Anders gesagt: Da Konstrukte von uns Menschen ausgedacht wurden, gibt es immer auch ein Genkonstrukt. Und in diesem Fall ergibt sich die Gelegenheit für etwas unglaublich Schönes und Bedeutsames. Allerdings ist das Opfer den Preis nicht immer wert.
Die Scham kann man als Parasit ansehen, der sich von Ängsten, Unsicherheiten und Traumata ernährt. So überleben die Tabus – Sex, Nacktheit, Menstruation, weibliche* Selbstbefriedigung. Wieso schämen wir uns für Konzepte, die nicht nur natürlich, sondern auch notwendig sind? Wieso darf uns jemand ,,verbieten”, uns frei und bedenkenlos zu bewegen?
Um auf die lateinamerikanische Kultur zurückzukommen – es ist wichtig zu betonen, dass die Scham verschiedene Größen in den verschiedenen Ländern annimmt. In Argentinien ist sie sehr groß – das merkt man am stärksten an der Lebensweise der Frauen. Wie gesagt, die Frau in Argentinien ist eine, die sich unfrei fühlt, ohne es selbst zu verstehen, da die Stereotype so tief verankert sind, dass man nicht an sie herankommt. Es geht darum, dass es in Argentinien fast keine externen Faktoren mehr gibt, die die Frau unterdrücken – abgesehen von der riesigen und schwerwiegenden Ausnahme des Mannes – und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, fühlt man sich als Frau stets dazu gezwungen, verschiedene Aktivitäten zu unternehmen, sei es die Entfernung von Körperbehaarung, die Modeauswahl, oder das systematische runter machen und sexualisieren von sich selbst und anderen Frauen. Es sind Konzepte, die so tief im System stecken, dass Frauen es auch wirklich lieben und sich nur dann schön, anständig und erfolgreich fühlen, wenn sie weiterspielen.
Was würde aber geschehen, wenn sich niemand mehr für irgendwas schämen würde – würde dann die Welt nicht vollkommen verschmutzt, ekelhaft, hässlich aussehen? Die Frage geht auch anders – erzieht man die Kinder, indem man ihnen moralische Werte vermittelt und Sympathie, Liebe, Zuneigung zeigt oder indem man sie sich für ihre Fehler schämen lässt? Keine Scham heißt noch lange nicht, dass niemand mehr auf den anderen achten würde. Ich würde sogar das Gegenteil behaupten – gegebenenfalls achtet man, ohne die Scham, mehr auf die Mitmenschen, da man nicht so fokussiert auf seine eigenen Wünsche, Fehler oder Gedanken ist. Weil man nicht die ganze Zeit damit beschäftigt wäre, sich an jemanden anpassen zu müssen, um dazuzugehören.
Es liegt alles an uns. Wir sind das System, das Schamgefühle, Stereotype, Zugehörigkeit und Gemeinschaft festlegt. Weil eine gewisse ,,Community” für soziale Wesen ja notwendig ist; allerdings keine, die so herabschauend und erniedrigend ist wie die, die es jetzt gibt. Warum schämt man sich, wenn man Akne hat, wenn die Haare nicht so sitzen, wie man sie möchte, wenn unsere Schminke verläuft, wenn man nicht den Körper hat, den man sich wünscht, oder wenn man sich beim Sex einen reißt? Ist das wirklich unser Wunsch, oder hat uns da jemand gesagt, dass man anders sein sollte? Warum schämen sich Frauen, wenn sie bei der Geburt Schwierigkeiten haben oder wenn sie unrasiert zur Gynäkologin/zum Gynäkologen gehen? Warum schämt man sich für andere Menschen? Was gibt uns das Recht zu urteilen, wie andere ihr Leben leben? (Ausnahme Nazis und Rechtsradikale)
Und natürlich sage ich nicht, dass ich mich nie schäme. Allerdings finde ich oft Situationen, für die sich andere vielleicht schämen würden, ganz unbemerkenswert. Ich blamiere mich absichtlich beim Arbeiten, ich lache laut über meine Fehler und rede offen über Sex und Nacktheit, ich liebe es, nackt zu sein; ich würde, wäre mein Zimmerfenster nicht im 4. Stock, die naked neighbour sein. Und das wünsche ich auch den anderen - meinen Schwestern, meinen Freund*innen, allen Menschen, die sich einschränken lassen, aus Angst, Scham zu verspüren für etwas, was un-be-mer-kens-wert ist.